Wer gern Sprachen lernt, stößt früher oder später auf die Sprache aller Sprachen. Achtung: Es ist weder Englisch noch Chinesisch. Ich meine Esperanto, die Sprache, die aus einem Best Of des romanischen, germanischen und slawischen Wortschatzes besteht und erschaffen wurde, um weltweit sprachliche Differenzen zu überwinden – und mit ihnen nationalistisches Geschwurbel und jegliches Gedankengut, das unüberbrückbare, entzweiende Unterschiede propagiert. Esperanto hat große Ambitionen und will nichts weniger als den Austausch zwischen allen Menschen fördern, damit wir uns endlich als eine große Familie begreifen. Und was braucht eine Familie? Eine gemeinsame Sprache, die möglichst neutral ist, also nicht kolonial-imperial-national vorbelastet. Ein Riesenprojekt. Eine Utopie? Ja, aber eine lebendige.
Esperanto wird gern ausgelacht. Von allen Sprachen ist es das wahrscheinlich größte Mobbing-Opfer. Ich will nicht, dass jemand Esperanto aus Mitleid lernt, sondern weil die Philosophie und die Menschenliebe, die hinter der Erschaffung dieser Sprache steckt, so universell wie genial ist. Esperanto wird meistens deswegen angegriffen und verlacht, weil es eine Plansprache ist – und deshalb erscheint es schnell pauschal sinnlos, sich damit zu beschäftigen. Aber das ist zu kurz gedacht. Denn es heißt nicht umsonst: Don’t judge a book by its cover. Oder besser gesagt: Ne juĝu libron laŭ ĝia kovrilo.
Vor dem II. Weltkrieg erfreute sich Esperanto einiger Beliebtheit. Doch da der Erfinder, der polnische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof (1859-1917) jüdischer Herkunft war, wurde Esperanto als Teil der jüdischen Weltverschwörung, die nach Nazi-Logik dazu diente, die weltweite Herrschaft zu übernehmen, bekämpft und die Esperanto-Kultur während des Nationalsozialismus verboten. Englisch setzte sich schließlich als globale Lingua franca durch und obwohl die Verbreitung des Englischen offensichtlich mit der Kolonialgeschichte verknüpft ist, nehmen das die meisten Menschen zumindest hin. Trotz allem: Esperantist*innen, also Menschen, die Esperanto sprechen und die damit verknüpften Werte leben, haben sich nicht unterkriegen lassen.
Zugegeben: Im Wettlauf um die Welt wurde Esperanto vom Englischen längst überholt und der Traum von einer neutralen Weltsprache ist heute nach wie vor eine Utopie. Das hält Liebhaber*innen aber nicht davon ab, fleißig in der Sprache zu kommunizieren und zu publizieren. Es gibt Esperanto-Zeitschriften, Esperanto-Nachrichtenportale, Wikipedia auf Esperanto und sogar ein weltweites Netzwerk esperantosprachiger Gastgeber, die Reisenden kostenlose Unterkunft anbieten – vorausgesetzt man spricht selbst Esperanto. Es gibt auch ein Fernstudium der Interlinguistik und Esperantologie – und etwa 1000 Esperanto-Muttersprachler*innen (sagt Wikipedia, aber immerhin), genuine Schriftsteller*innen und eine Vielzahl an in Esperanto übersetzter Literatur. Die Sprache ist somit kein nerdiges Hobby einzelner Linguistik-Enthusiast*innen, sondern ist von echter kultureller Relevanz.
Esperanto hat dennoch ein besseres Schicksal verdient. Böse Zungen behaupten, dass es mitnichten als neutrale Weltsprache taugt, denn es setzt sich aus allerlei europäischen Sprachen zusammen und ist damit ganz klar europäisch zentriert. Für eine Chinesisch-Muttersprachlerin mag das Erlernen von Esperanto ähnlich kompliziert sein wie Englisch – aber nicht ganz. Denn es ist wesentlich leichter als jede andere europäische Sprache und kann als Grundlage dienen, um später andere Sprachen wie Spanisch, Polnisch, Italienisch, Deutsch etc. zu lernen. Da Esperanto eine grammatische Regelmäßigkeit hat, von der die meisten Sprachlernenden nur träumen können, stellen sich schneller Erfolgserlebnisse ein. Das ist wichtig, denn die Erfahrung, sich erfolgreich eine Sprache angeeignet zu haben, motiviert ungemein, um eine weitere zu lernen. Warum sich also zuerst an Englisch die Zähne ausbeißen? Es könnte so viel leichter sein – mit Esperanto, der Sprache der Hoffnung.
Ich sehe es nicht als unbedingten Nachteil an, dass Esperanto eurozentriert ist. Eine Sprache, die sich zu gleichen Teilen aus allen existierenden Sprachen der Welt zusammensetzt – wer macht sich die Arbeit, zuerst alle Sprachen der Welt zu lernen, um dann Esperanto Reloaded zu erfinden? Ich bezweifle, dass ein Mensch so etwas leisten kann; ein Kollektiv vielleicht. Am ehesten würde das bestimmt eine künstliche Intelligenz schaffen. Aber dann käme sicherlich der Vorwurf, dass Esperanto Reloaded keine menschengemachte Sprache mehr ist und damit ungeeignet für neutrale internationale menschliche Kommunikation. Esperanto behält also seine volle Berechtigung.
Europa ist, im Vergleich zu anderen Kontinenten, eine winzige, sprachlich zersplitterte, seltsam geformte Halbinsel. Ich glaube gern daran, dass es Werte gibt, die historisch alle Europäer*innen teilen, die aber nicht so offensichtlich sind, weil wir alle andere Sprachen sprechen, eigene Regierungen und Gesetze haben und sich jedes europäische Land ein bisschen wie der Nabel der Welt aufführt, manche kommen sich wichtiger als andere vor und andere lernen deswegen die Sprache des nächstgrößten Nachbarn. Gerade in Zeiten, in denen Europa von rechtspopulistischen Kräften zerrieben wird, höre ich nicht auf davon zu träumen, dass es eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa geben kann. Und Esperanto wird unsere Sprache sein. Träumen ist ja noch erlaubt, zumal die Anzahl der Esperanto-Lernenden angeblich steigt. Außerdem hätten wir sogar eine eigene Hymne, “La Espero” (die Hoffnung), die ohne nationalistischen Quark auskommt und mich gerade deshalb ein bisschen sentimental werden lässt.
Esperanto mag eine Plansprache sein, doch sie hat eine eigene, lebendige Kultur hervorgebracht, die höchst inklusiv und an kein Territorium gebunden ist. Wie cool. Dafür, dass sie (bis jetzt) in keinem einzigen Land der Welt eine anerkannte Amtssprache ist, ist ihre heimliche Soft Power nicht zu unterschätzen. Keiner weiß wie viele Menschen weltweit Esperanto als Fremdsprache erlernen und aktiv sprechen, eine halbe bis zwei Millionen sagt Wikipedia. Mir persönlich erscheint es allemal nützlicher als Latein. Zumindest sollte jede und jeder wenigstens einmal ganz ohne Witz und besserwisserischem Hohn von Esperanto gehört haben und dann selbst entscheiden, ob sich eine tiefere Beschäftigung damit lohnt. Ich habe die Sprache längst in mein Herz geschlossen, auch wenn meine Kenntnisse sich noch auf Anfänger-Niveau bewegen. La Espero werde ich stets gut gebrauchen können. La Espero mortas laste. Vivu Esperanto!
Zum Weiterlesen empfehle ich das deutschsprachige Portal www.esperanto.de sowie das wunderbare Video “Esperanto Explained”. Und falls du jetzt überzeugt bist und unbedingt Esperanto lernen willst, schau doch mal auf lernu! vorbei. 😉
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