Aniversum

Anikas Welt in Wort & Bild

Eine Reise nach Bologna

Nach unzähligen Neapel-Aufenthalten stand für mich Anfang des Jahres fest: Ich möchte meine Komfortzone verlassen und etwas Neues in Italien entdecken. Dass die Wahl auf Bologna fiel, war schließlich Lucio Corsis Schuld. Von allen Konzertdaten, die er diesen Sommer geplant hatte, war Bologna für mich das am besten erreichbare Ziel: Mit dem Zug von Leipzig nach München und von dort bis zur Endstation, la stazione di Bolo wie Lucio sagen würde.

Portici in der Via Farini

Bologna zeichnet sich durch endlose, oft aufwändig gestaltete Bogengänge aus, die Portici, die der Stadt ihren unverwechselbaren Charakter verleihen. Am besten lernt man die Stadt auf ziellosen Streifzügen durch das historische Zentrum kennen.

Portici in der Strada Maggiore

Die Bogengänge haben allerlei Geschichten zu erzählen, die windige Studierende an die Säulen gekritzelt haben. Bologna beherbergt die älteste Universität Europas, gegründet im Jahre 1088, und die Studierendenschaft prägt die Stadt sichtbar.

Via Zamboni

Um das Schöne mit dem Praktischen zu verbinden, habe ich zwei Wochen lang jeden Vormittag einen Sprachkurs besucht. Meine täglichen 30 Minuten Fußweg bis zur Sprachschule führten mich über die Via Zamboni, die von den Fakultäten der Universität gesäumt ist, unter eleganten Portici gelegen.

Piazza Maggiore

Ich habe einige Tage gebraucht, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen. Geholfen haben mir die Unternehmungen, die wir von der Sprachschule aus gemacht haben, besonders der Besuch im Rathaus mit imposantem Blick auf die Piazza Maggiore und der Rundgang in der berühmten Biblioteca Salaborsa, die ein architektonisches Juwel ist, haben mir gefallen.

Biblioteca Salaborsa

Auch die Biblioteca dell’Archigennasio steht Salaborsa in nichts nach und beeindruckt durch aufwändige Plastiken sowie Wand- und Deckenmalereien.

Biblioteca dell’Archiginnasio

Neben der Piazza Maggiore ist eine der schönsten Ecken der Altstadt die Piazza Santo Stefano mit ihrer besonderen dreieckigen Form und der gleichnamigen Basilika.

Piazza Santo Stefano und Basilica Santo Stefano

Und nicht fehlen durfte der Blick auf den Canale di Reno – ein beliebtes Fotomotiv, das darüber hinwegtäuscht, dass Bologna, einst Stadt eines verzweigten Kanalsystems, mittlerweile nur noch über zwei Kanäle verfügt, die noch nicht geschlossen wurden.

Finestrella di Via Piella, Canale di Reno

Ein lohnenswerter Ausflug sind die Portici di San Luca, der längste Bogengang der Welt, dessen Aufstieg zur Kirche Santuario della Madonna di San Luca führt.

Portici di San Luca

Auch für sportlich Ungeübte ist der Pilgerweg gut schaffbar und bietet eine tolle Sicht auf die Stadt. San Luca war, wahrscheinlich wenig überraschend, meine Lieblingsattraktion in Bologna.

Santuario della Madonna di San Luca und Blick auf Bolognas Hügel

Bologna ist für Mortadella, Tortellini und Tortolloni, Tagliatelle al ragù und jede Menge schwer Verdauliches bekannt, das für mich als überwiegend pflanzenbasierte Vegetarierin nicht in Frage kam. Gleichzeitig ist die Stadt progressiv und bietet allerlei vegetarische, vegane und biologisch-regionale Alternativen, wenn man bereit ist, nach ihnen zu suchen. Getestet habe ich das Botanica Lab, ganz in der Nähe der Piazza Maggiore, sowie das Bistrot Zem, in dem ich die vegane Variante der im Original mit Fleisch gefüllten Tortellini probieren konnte. Ein unerwartetes Highlight war die Crostata mit Erdbeerfüllung.

Tortellini und Crostata

Mein Sprachkurs hat leider gemischte Gefühle ausgelöst. In der ersten Woche gab es keine Gruppe für mein Sprachlevel und ich fühlte mich in meiner B2-Gruppe, die zeitweise aus 10 Personen unterschiedlichster Niveaus bestand, unterfordert. Zweifel kamen auf, ob es sich auf einem höheren Niveau überhaupt lohnt, eine Sprachschule zu besuchen. In der zweiten Woche kam glücklicherweise eine Gruppe für das C1-Level zustande. In jedem Fall bin ich nun dafür sensibilisiert, im Vorfeld eine genauere Einschätzung meines Levels einzufordern, anstatt mich zu wohlwollend auf die Kompetenzen der Sprachschule(n) zu verlassen.

Via dell’Inferno, der Weg der Hölle

Dass ich mir die Stadt nur langsam erschlossen habe, lag auch an der unglaublichen Hitze, die seit meiner Ankunft herrschte. Kaum ein Tag unter 30 und eine Nacht unter 25 Grad. Besonders in meiner zweiten Woche wurden wir von über 35 Grad heimgesucht. Erleichterung verschafften nur Klimaanlage und – sofern es ging – eine Verlagerung der Aktivitäten in die Abendstunden, um nicht in der Sonne zu braten. Ständiges Schwitzen war an der Tagesordnung. Man könnte meinen, das sei normal und erwartbar im italienischen Sommer, aber weit gefehlt, denn Juni ist noch keine Hochsommerzeit. Die Temperaturen lagen rund 10 Grad über dem Durchschnitt, der für diese Zeit üblich ist, Bologna wurde Rekordhitze attestiert, eine Folge des fortschreitenden Klimawandels. Wie wird es sich in den nächsten Jahren, geschweige denn Jahrzehnten, damit leben? Eine Frage, die man kaum zu stellen wagt.

Begegnung mit einem Liedtext von Lucio Corsi in San Luca
„Sich in einer Großstadt allein zu fühlen, schmerzt mehr als in meiner Gegend…“

In Woche 2 stand endlich das Highlight an, das der Hauptanlass meiner Reise war: Das Konzert von Lucio Corsi im Sequoie Music Park. Über zwei Stunden Live-Musik bei bester Outdoor-Akustik. In bewährter Manier hat Lucio auf der Bühne alles gegeben, hat gesungen, Gitarre, Keyboard, Mundharmonika gespielt, sich in die Menge geworfen – und ich war stolz, dass ich mitsingen konnte.

Beweisfotos vom Konzert

Lucio ist Musiker mit Leib und Seele, einer, der nicht nur seine Fans in den Bann ziehen kann. Obwohl ich alleine da war, habe ich mich in guter Gesellschaft gefühlt. Meine Erfahrung habe ich hinterher im Chat des Fanclubs geteilt und die positive Resonanz hat mich glücklich gestimmt.

Mein Konzerterlebnis im Fanclub-Chat

Während meines Aufenthaltes konnte ich mich kaum von meinem Laster befreien, alles in Bologna mit Neapel zu vergleichen. Man möge es mir nachsehen. Im Sprachkurs haben wir die Pausen stets in einer Bar verbracht, in der ich mein bewährtes Kaffee- und Pistazien-Cornetto-Ritual fortführen konnte. Im Gegensatz zum neapolitanischen Cornetto al pistacchio war das bolognesische Cornetto kleiner, trockener, teurer. 1:0 für Neapel, aber immerhin ist die Creme-Füllung identisch. Nach wenigen Tagen war ich im Sprachkurs diejenige, deren Lieblingsort in Bologna Neapel ist – und ich hatte keine Einwände.

Cornetto al pistacchio

Der so offensichtliche Unterschied in der Stadtbildpflege zwischen Bologna und Neapel hat mich nachdenklich gestimmt. Bologna wirkt wie eine Vorzeigestadt, die Portici sind nahezu makellos gepflegt, an vielen Palazzi hängen Informationstafeln zu ihrer Historie. Überquellende Müllcontainer sind inexistent und das Stadtbild erfüllt alle Vorstellungen einer italienischen Stadt, die man mit dem Begriff malerisch in Verbindung bringen würde. Welch einen Unterschied es macht, wenn die Stadtverwaltung mit Geld ausgestattet ist und so funktioniert, dass sie ihren Bürgern zugute kommt.

Altstadt

Es war nicht schwer, in Bologna tatsächlich Neapel zu finden. Bologna ist eine Stadt der Zugezogenen, wie mir auch Paola, meine Gastgeberin erzählte. Unzählige Einwohner kommen usprünglich aus dem Süden und sind arbeitsbedingt geblieben. Auf dem BOtanique Festival habe ich zwei neapolitanische Bands kennengelernt, die ich vorher nur oberflächlich kannte: 99 Posse und La Maschera. Besonders letztere hat mich verzaubert und mir unerwarteterweise das schönste Konzert beschert. Nach Konzertende stimmten viele Fans die Hymne des SSC Neapel an, der vor kurzem zum vierten Mal die italienische Fußballmeisterschaft gewonnen hat. Ein besonderer Moment, der mich mit dem Gefühl erfüllt hat, dass Neapel wirklich überall ist. Im Übrigen kostet das Ticket für das BOtanique Festival nur 10 Euro und man kann damit über den ganzen Sommer Konzerte vieler verschiedener Bands besuchen. Eine tolle Entdeckung!

La Maschera

Hitzebedingt habe ich nicht in alle Museen besucht, die ich mir vorgenommen hatte, doch war mit meiner Auswahl letztlich zufrieden. Das Museum zur Stadtgeschichte im Palazzo Pepoli erzählt multimedial die wichtigsten Stationen von der Stadtgründung bis heute. Bologna war ursprünglich eine Siedlung der Etrusker. Im Mittelalter hatte die Stadt rund hundert Türme, die sich adlige Familien als Prestigeobjekte bauen ließen. Die meisten davon fielen nicht nur einer städtebaulichen Neuplanung zum Opfer, sondern auch zahlreichen Erdbeben. Bis heute gelten der Torre degli Asinelli und der Torre della Garisenda als Wahrzeichen der Stadt, sind aber wegen Einsturzgefahr nicht begehbar und werden aktuell abgesichert.

Garisenda und Asinelli

Ein kurioses Museum ist außerdem im Palazzo Poggi beheimatet, das zahlreiche wissenschaftliche Sammlungen umfasst, von historischen Karten und Schiffsmodellen, über alte handbemalte Bücher, …

Palazzo Poggi I

… präparierte Tiere, botanische Drucke, Modelle von Organen und menschlichen Körpern und vielem mehr.

Palazzo Poggi II

Bologna war voller Höhen und Tiefen, doch ich habe das Beste herausgeholt. In der Abendsonne hat sich die Altstadt von ihrer schönsten Seite gezeigt und die Bogengänge haben ihre ganze Magie entfaltet.

In der Abendsonne

Auf drei Konzerten konnte ich immerhin temporär meinen Traum verwirklichen, mein Leben auf Konzerten in Italien zu verbringen. Meine Unterkunft war eine gute Wahl und ich habe mich dort wie Zuhause gefühlt. Die klimawandelbedingte Hitze und die Nord-Süd-Unterschiede, die mir zwischen Bologna und Neapel aufgefallen sind, werden mich auch weiterhin gedanklich beschäftigen. Aus meiner durchwachsenen Sprachschulerfahrung nehme ich mit, dass ich mich weniger unterschätzen sollte und bestimmter auftreten darf. Ich kann viel mehr, als ich mir oft zutraue, und vor allem habe ich mir (wieder) gezeigt, dass ich mit mir selbst eine gute Zeit verbringen kann. Ciao Bolo!

Frosch im Haus

Es war irgendwann im Sommer: Mein Vater hat einen Frosch auf der Hand. Jeden Tag sind wir draußen im Schrebergarten, unserem Wohnzimmer im Freien, ein paar abgezäunte Quadratmeter, auf denen die Natur uns gehört und wir ihr. Rundherum andere Kleinstaaten: Links der stets griesgrämige Nachbar, der sich über den Rasenmäher zur falschen Uhrzeit beschwert, rechts das gutmütige alte Ehepaar, das mit uns den selbstgebackenen Kuchen teilt, hinter uns ein unbekanntes Territorium, vor dem uns Hecken und Rabatten schützen. Vor uns ein riesiges Feld, weitläufiges Nichts, das im Winter brach liegt, und im Sommer von Raps, Weizen oder Mais bevölkert wird und unser Städtchen an den Horizont verbannt.

Mein Vater hat einen Frosch auf der Hand. Er hat ihn im Gebüsch gefunden, hinter der Laube, dort, wo unser Garten an das unbekannte Territorium grenzt. Er ist klein, ungefähr fingerkuppengroß, seine Haut runzlig und ebenmäßig braun, die Kehle wippt in einem fort auf und ab wie ein Herzschlag, der der Welt gehört. Ich habe noch nie so nah einen Frosch gesehen. Reglos sitzt er auf der Hand meines Vaters, als wäre dies der Moment, auf den wir alle gewartet haben. Er ist wunderschön und ich möchte ihn nicht gehen lassen – er ist unser Frosch. Mein Vater baut ihm eine Hütte aus vier Holzwänden, deckt sie mit einer Plexiglasplatte ab, in die wir Löcher bohren, damit Yoshi atmen kann. Auf die Ecken lege ich jeweils einen Stein, damit Yoshis Plastikhimmel nicht fortfliegen kann. Was, wenn ein Vogel käme und ihn auffräße? Nicht auszudenken. Yoshi verdient das beste Leben von allen. Wir stellen sein Häuschen gegenüber meiner Schaukel auf, auf einem verwaisten Beet. Die Holzwände befestigen wir sicher in der Erde. Was braucht ein Frosch? Wasser! Natürlich. Er soll einen ganzen Pool bekommen. Von zu Hause nehme ich eine Plastikdose mit in den Garten. Ich buddele sie soweit ein, dass nur ein winziger Rand aus der Erde ragt. Wir befüllen sie mit Wasser. Neben den Pool stecke ich ein kleines auffaltbares pinkes Schirmchen in die Erde. Yoshi hat jetzt ein Luxus-Leben. Auf das Cocktail-Schirmchen, das ich von irgendeiner Feier mitgenommen habe, bin ich besonders stolz. Dazu noch ein Näpfchen mit Froschsalat. Wir schauen jeden Tag, wie es Yoshi geht. Wenn es regnet, bin ich besonders nervös. Wenn der Wind sein Unwesen treibt, auch. Ist Yoshi noch sicher unter seinem Plastikhimmel? Tag für Tag sitzt er in der Ecke seiner Holzhütte mit dem gleichen stoischen Ausdruck wie am Tag, als er auf der Hand meines Vaters saß.

Eines Tages, vielleicht nach zwei Wochen, lastet der Plastikhimmel unverändert auf den Holzwänden, nichts scheint verrückt worden zu sein. Der Pool lungert verwaist in seiner Erdgrube, das pinke Schirmchen hält tapfer die Stellung. Von Yoshi keine Spur. Hat er sich einen Fluchttunnel gegraben? Doch nichts dergleichen ist zu sehen. Ist das Plexidach einen Moment lang weggeflogen? Ich stelle mir vor, wie Yoshi schutzlos in seinen vier Wänden sitzt. Kurz darauf entdeckt ihn ein Vogel, der ihn entführt und unwiederbringlich seinem kleinen Reich entreißt. Ich finde keine Erklärung. Yoshi ist weg und der Platz, der ihm gehörte, leer. Ich sage mir, dass es vielleicht so kommen musste und er es jetzt besser hat. Wer ist schon gern dauerhaft in einer Luxus-Suite eingesperrt? Eigener Pool mit Schirmchen hin oder her, ein Froschleben ist zwar klein, aber so ganz allein auch kein Hauptgewinn. Ob Yoshi sich manchmal einsam gefühlt hat, obwohl wir ihn jeden Tag besucht haben? Vielleicht hat er den Pool sogar gehasst und das Schirmchen verflucht. Ich frage mich, was Yoshi jetzt wohl macht, zum Beispiel, ob er so klein geblieben ist, wie er an dem Tag war, als er auf der Hand meines Vaters saß. Vielleicht hat er sich verwandelt und ist zu einer stattlichen Kröte geworden. Irgendwo da draußen springt ein brauner Frosch durchs Gebüsch, der zwei Wochen lang mir gehörte und dann wieder der Welt.

Leipziger Stadttaubenhilfe: Engagement für verwilderte Haustiere

Gegenüber der S-Bahn-Station am Bayrischen Bahnhof herrscht reges Flattern. Zwei dunkelgrüne übereinandergestapelte Schiffscontainer lassen kaum erahnen, was sich im Inneren befindet: auf der oberen Etage ein umgebautes „Taubenloft“, das mittlerweile voll ausgelastet ist und 180 Tauben ein Zuhause bietet; auf der unteren Etage ein Lagerraum voller Utensilien, die für die Versorgung der Vögel und die Pflege des Taubenschlages gebraucht werden. Gesponsert wurde der Schlag von der Deutschen Bahn, die damit die Tauben aus der unterirdischen S-Bahn-Station direkt nebenan herauslocken möchte. Loris kam unkompliziert per Instagram-Nachricht zu seinem neuen Ehrenamt und hilft jede Woche am Bayrischen Bahnhof aus. „Ich mag Tauben. Ich sehe die häufig in der Stadt und habe mich gefragt, ob man denen helfen kann.“ Kommen Tauben nicht alleine klar? Ich frage ihn wie andere auf seine neue Freizeitbeschäftigung reagieren. Er winkt ab: „Negative Kommentare gab es bis jetzt noch keine. Viele sind fasziniert und fragen, was man da überhaupt macht.“

Tauben am Schlag des Bayrischen Bahnhofs

Ehrenamtliche packen an

Die Leipziger Stadttaubenhilfe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gefiederten Stadtbewohner artgerecht zu versorgen, bei Notfällen tiermedizinische Hilfe zu vermitteln und über die Lebenssituation von Tauben aufzuklären. Im Stadtgebiet verteilt betreut der Verein insgesamt drei Taubenschläge. Dort bekommen die Vögel artgerechtes Körner-Futter, eine sichere Nist- und Rückzugsmöglichkeit. Frisch gelegte Eier tauschen die Ehrenamtlichen gegen Gips-Attrappen aus, um sowohl die Population in Grenzen zu halten als auch künftiges Taubenleid zu verringern. Die Stadttaubenhilfe folgt damit dem sogenannten Augsburger Modell, das sich deutschlandweit als Erfolgskonzept etabliert. Es setzt auf betreute Taubenschläge, die an Hotspots wie Bahnhöfen, an denen viele Tauben brüten, aufgestellt werden. Besonders der größte Taubenschlag am Bayrischen Bahnhof setzt dieses Modell konsequent um. Henrike, die zum Vorstand der Stadttaubenhilfe gehört, gibt mir nähere Einblicke in die Vereinsarbeit. 2013 begann eine Handvoll Engagierter aus dem Tierschutz sich in Leipzig für Stadttauben einzusetzen, inspiriert von den bereits bestehenden Stadttaubenhilfe-Vereinen in Berlin und Hamburg. Erst 2019 sei die Gründung als Verein erfolgt. Alles läuft spendenbasiert und rein ehrenamtlich. Henrike erzählt, dass sie selbst in der Corona-Zeit zur Stadttaubenhilfe gekommen sei: „Damals gab es diese Artikel im Internet, dass die Tauben durch den Lockdown in der Stadt nichts mehr zu fressen finden und verhungern. Da wollte ich etwas tun.“

Tauben brauchen Schutz

Die heutigen Stadttauben sind die Nachfahren von Haus- und Brieftauben, die früher für ihr Fleisch, ihre Eier und ihre Funktion als verlässliche Postboten geschätzt und gezüchtet wurden. Mit dem Verlust ihrer Nützlichkeit schwand ihr positives Image. Ihre Nachkommen verkamen zu Störenfrieden, die um Futter betteln und im Verdacht stehen, Krankheiten zu übertragen und mit ihrem Kot Hausfassaden zu zersetzen. Dabei werden die Schäden, die man ihnen nachsagt, in jeder Hinsicht massiv überschätzt. Futtermangel, falsche Ernährung durch Angewiesensein auf Essensreste und Verletzungsrisiken durch herumliegenden Müll setzen ihnen in der Stadt zu. Um ein artgerechtes, langes Leben führen zu können, brauchen sie die Unterstützung der menschlichen Stadtgesellschaft. Ich laufe ein paar Mal im Tauben-Container mit und kenne schon bald die Routine: Eier tauschen, Wassertränken erneuern, Kot entfernen, neues Streu verteilen, Futter-Raufen befüllen, schauen, ob es den Tauben gut geht. Ein Taubenschlag an einem belebten Knotenpunkt zieht auch viele neugierige Blicke auf sich. „Ich ekel mich ja schon vor denen…“, meint eine Passantin nachdem ich ihr erkläre, dass hier Stadttauben versorgt werden. Die Abneigung gegen die gefiederten Stadtbewohner sitzt bei vielen tief. Warum eigentlich? „Kennt man ja so, die Ratten der Lüfte“, antwortet sie schlicht.

Rege Rückkehr nach Saubermachen des Schlages

Stadtverwaltung als Herausforderung

Anhaltendes Konfliktthema ist für die Stadttaubenhilfe die fehlende Kooperation mit der Stadt Leipzig. Dazu Henrike: „Die Stadt behauptet, es gäbe kein Taubenproblem. Dabei ist der Taubensport und die -züchtung erlaubt, wodurch noch mehr Tauben in die Stadt kommen.“ Auf eine Anfrage der Linkspartei an die Stadt Leipzig zum Umgang mit Stadttauben antwortet das Ordnungsamt, dass der Stadttaubenhilfe-Verein bekannt sei und begrüßt werde, aber keine finanzielle Unterstützung erhalte. Die Fachförderrichtlinie zur Unterstützung von Tierschutzarbeit in Sachsen gelte hauptsächlich für Heimtiere, worunter Stadttauben per Definition nicht fallen. Da sie durch ihre Abstammung von Haustieren aber auch nicht als Wild- und Fundtiere betrachtet werden können, sieht sich die Stadt nicht in der Verantwortung, finanzielle Hilfen beizusteuern. Als verwilderte Haustiere leben Tauben in einer Grauzone. Henrike merkt an, dass vonseiten der Stadt das Veterinäramt zumindest bei Impfaktionen unterstütze, auch wenn die Expertise der Ehrenamtlichen dort bisher nicht ernstgenommen werde. Langfristiges Ziel sei es, „die Stadt zu knacken“: „Wir wollen erreichen, dass sie einsieht, dass es ihre Verpflichtung ist, sich um die Tauben zu kümmern, aber auch zu ihrem Vorteil — und dafür kann unser Erfahrungsschatz genutzt werden.“ Optimistisch stimmt Henrike die zunehmende Bekanntheit des Vereins, bedingt durch Infostände, Präsenz auf Social Media und ein zunehmendes mediales Interesse. Hoffnung machen die zahlreichen privaten Spender und ein wachsendes Team an Ehrenamtlichen, denen es am Herzen liegt, sich für ein würdiges Stadttaubenleben einzusetzen — aller Herausforderungen zum Trotz.

[Diese Reportage ist im Rahmen eines Seminars entstanden.]

Auf zum Konzert: Liberato in Berlin

Kennst du das? Dein Musikgeschmack ist so besonders und herausragend, dass du weit und breit die einzige Person bist, die ihn abfeiert. Na gut, passiert nicht jedem, aber mir oft. Kürzlich bin ich also allein zum Konzert von Liberato nach Berlin gereist. Ich war zwar schon früher allein auf Konzerten, aber lockdownbedingt war das gefühlt ein halbes Leben her. Zum Glück stellte sich meine super dramatische Aufregung, die ich im Gepäck hatte, ganz schnell als unbegründet heraus, als ich wahrscheinlich als einziger deutscher Fan vor der Bühne zwischen einer Menge zugereister und nach Berlin ausgewanderter Italiener*innen auf den Musik-Act wartete, der wohl als einer der mysteriösesten in ganz Europa bezeichnet werden kann — und als einer der spannendsten in der italienischen Musikszene sowieso. In der ist Liberato das, was Elena Ferrante für die italienische Literatur ist: ein Phantom, das die neapolitanische Kulturlandschaft weit über ihre Lokalgrenzen hinaus bereichert.

Liberato auf der Bühne im Kesselhaus Berlin, Beweisfoto Nr. 1

Liberatos Liedtexte sind größtenteils auf Neapolitanisch, der Sprache in und um Neapel. Er greift die Tradition der neapolitanischen Lieder aus dem 20. Jahrhundert auf, kleidet sie in neue, moderne Melodien, huldigt der Stadt am Vesuv, ihrem Fußballclub, ihren Vierteln und Plätzen, der Liebe. Liberato schafft es, klanglich und ästhetisch ein Neapel zu inszenieren, das sein negatives Image hinter sich lässt und im 21. Jahrhundert wieder das Zeug zum Sehnsuchtsort Nummer 1 hat. Das erste Lied Nove Maggio erschien 2017 auf Youtube, wie aus dem Nichts tauchte der Sänger ohne Gesicht in den Sozialen Medien auf. Seitdem ist der 9. Mai für Liberato-Fans das, was für Verliebte der 14. Februar ist: Der Tag, an dem man von seinem Liebsten Zuwendung erwartet — in diesem Fall in Form neuer Musik, versteht sich.

Um Liberatos Identität, die auf der Bühne akribisch maskiert wird, ranken sich so viele Mythen wie es in Neapel Legenden gibt und sie tragen entscheidend zum Charme des Projektes bei. Im italienischen Web kursieren allerlei Namen und bekannte Künstler, die hinter Liberato vermutet werden, immer wieder wird investigativjournalistisch versucht, das Gesicht hinter der Maske zu entlarven. Keine ist wahrscheinlich so romantisch und außergewöhnlich wie jene, dass es sich um einen jungen Mann handeln könnte, der im Jugendgefängnis auf der winzigen Insel Nisida im Golf von Neapel einsitzt und sich durch seine Musik rehabilitiert. Eingefleischte Fans verteidigen natürlich Liberatos Anonymität, denn sonst wäre die Magie dahin. In jedem Fall haben die Personen, die das Projekt erschaffen haben, sehr gut verstanden, dass Anonymität ein zauberhaftes Marketing-Instrument sein kann, vor allem auch ein praktisches, wenn dahinter Personen stecken, die die Musik für sich sprechen lassen und den Personenkult, der in Musik-Fan-Kreisen gang und gäbe ist, ein Schnippchen schlagen möchten.

Dass es jemals eine Tour geben könnte, die Berlin, Paris und London umspannt, war Anfang des Jahres eine Überraschung, die meine Vermutung bestärkt hat: Hier geht es nicht nur um rein neapolitanische Lokal-Folklore, sondern um ein pan-europäisches Statement, das verschiedene Genres, Epochen, Ästhetiken und Sprachen zusammenbringt, ohne seinen Fokus zu verlieren. Nicht umsonst sind die Lieder mit englischen, spanischen, französischen Phrasen gespickt. Trotzdem: Neapel liebt Liberato, so sehr, dass vielen Fans der Weg von 1700 km gen Norden nach Berlin nicht zu weit war.

Der Fanclub hat die schönen Fotos, ich nur Beweisfotos.

Zum Glück gibt es keine Vorband und mit reichlich einer halben Stunde Verspätung tritt Liberato mitsamt seiner zwei musikalischen Supporter auf die Bühne, alle wie gewohnt in schwarzem Look und komplett vermummt. Die Luft ist stickig heiß, der Bass wummert, die Lichtshow reißt alle mit. Ich singe in meinem Anfänger-Neapolitanisch, das akustisch unter dem Gesang der echten Neapolitaner*innen glücklicherweise untergeht. Auch wenn ich (noch) nicht jedes einzelne Wort verstehe, fühle ich es zu 100%: ‚Nnammurato for the first time, na, na, na, na… Dass ich alleine da bin, ist völlig uninteressant, im Gegenteil, ich genieße die Unabhängigkeit, mich frei bewegen zu können und so zu tanzen, wie ich es nur tue, wenn ich wirklich niemanden kenne. Ohnehin fühle ich mich in meinem Liberato-Shirt perfekt „getarnt“. Unter Menschen zu sein, die die gleiche Musik lieben, ist ein unvergleichliches Gefühl. Während jedoch viele damit berschäftigt sind, die halbe Show auf ein paar Pixel ihres Smartphones zu bannen, bewundere ich Liberatos Dance Moves, lausche seinem Gesang, der live nicht mit Autotune verfremdet ist, sondern ganz echt klingt und werde mir bewusst, dass ich das alles gerade wirklich erlebe. Bekannte Songs werden in Remixen gespielt, die ich vorher noch nicht kannte und die die Fans zum Ausrasten bringen. Wie immer, wenn man ein Flow-Erlebnis hat, ist alles ganz schnell nach nur knapp 90 Minuten vorbei-bye-bye. Die Menge singt, um Liberato auf die Bühne zurückzuholen, aber niente, ein sang- und klangloser Abgang ohne Überraschungen, die Lichter gehen an und dann ist klar: è tutto finito.

Vielleicht hätte eine Überraschung drin sein können, irgendeine Hommage an den SCC Neapel, der vor kurzem nach 33 Jahren zum ersten Mal die italienische Meisterschaft gewonnen hat oder irgendein neues Lied, schließlich liegt das Erscheinen des letzten Album eine Weile zurück. Aber es ist auch nicht verwunderlich, dass Liberato mal wieder mit den Erwartungen seines Publikums spielt. Vielleicht plant er die nächste Überraschung für genau den Moment, wenn die Aufmerksamkeit am geringsten ist, z. B. nach der Tour — oder gar nicht, denn unsere Lieblingskünstler*innen schulden uns nichts. Ich übe mich in Dankbarkeit für die Musik, die wie ein Geschenk veröffentlicht wurde, und die ich überraschenderweise nicht weit von meinem Wohnort entfernt live erleben durfte. Auf jeden Fall haben die drei Liberato-Vertreter auf der Bühne am meisten von allen geschwitzt, vielleicht zu sehr, um sich für eine Zugabe zu erbarmen.

Draußen bahne ich mir meinen Weg durch Menschenansammlungen, die weiterfeiern, ein paar Jungs, die singen: Siamo i campioni d‘Italia und fortsetzen, was Liberato nicht beendet hat. Und weil ich es für sehr unwahrscheinlich halte, dass Liberato ständig nach Berlin kommen wird, entscheide ich mich spotan dafür, am nächsten Abend zum zweiten Konzert zu gehen. Ich bin viel entspannter und erlebe die Show viel näher an der Bühne. Die gleiche Setlist noch einmal zu hören, ist dadurch ein anderes Erlebnis. Nach doppelter Aufwärmübung kann ich bis zum nächsten Konzert in Neapel vielleicht sogar lückenlos mitsingen. Non ti scordar di me, ce verimm‘ a Napule.

Art Days 2022: Mein allererster eigener Stand!

Das Aniversum live und in Farbe!

Vor ein paar Tagen ist Realität geworden, was vor einem Jahr noch ein Traum und vor einigen Jahren undenkbar war: Ich habe zum ersten Mal meine Kunst auf einer Convention gezeigt. Wochenlang habe ich Motive druckreif vorbereitet, Karten und Sticker bestellt, Material gesammelt, um meinen ersten kleinen Stand herzurichten. Etwas, das man lange Zeit in seinem stillen Kämmerlein betreibt, zum ersten Mal der Öffentlichkeit zu präsentieren, kann ganz schön nervenaufreibend sein. Doch es hat sich gelohnt!

Rückblickend hätte es für mich keinen besseren ersten Kunstmarkt geben können als die Leipziger Art Days. Zwei Jahre lang war ich begeisterte Besucherin, immer mit dem Hintergedanken: „Da wäre ich auch gern mal dabei!“ Dieses Jahr war es endlich soweit. Nachdem ich vor einiger Zeit beschlossen hatte, mich intensiver meinem kreativen Schaffen zu widmen, war es der nächste logische Schritt, mich auch offline zu zeigen, zumindest in meiner eigenen Stadt, in einem Rahmen, den ich als Besucherin schon gut kannte und der mir von der Größe und der Location her zusagte. Sich eine Online-Präsenz aufzubauen, ist die eine Seite. Der persönliche Kontakt und die Teilnahme am lokalen (Kunst-)Geschehen ist für mich eine neue, wichtige Erfahrung, die mir mehr gegeben hat, als ich mir im Vorfeld ausmalen konnte.

Es war so spannend und wundervoll den Moment mitzuerleben, wenn jemand vor meinen Werken stand und sich dafür entschied, eine Karte oder einen Sticker zu erwerben. Auch alle positiven Kommentare und mitgenommenen Visitenkarten haben mich riesig gefreut. Dass ich alle beiden Tage einigermaßen entspannt an meinem Stand verbringen konnte, ist hauptsächlich der umfassenden Unterstützung zu verdanken, die ich von Freunden und Familie bekommen habe. Für uns alle war war es ein besonderes Erlebnis, einen Kunstmarkt mal von der anderen Seite als Aussteller zu erleben. Im Übrigen bin ich unheimlich froh darüber, dass ich die Art Days als ersten Markt auserkoren habe, auf dem ich mich präsentiert habe. Nicht nur bietet die Moritzbastei eine wunderschöne Kulisse, wo es sich gut viele Stunden aushalten lässt, auch das Publikum war durchweg wohlgesinnt, entspannt, wertschätzend und unkompliziert, einfach so, wie man es sich wünscht. Auf der tollen Erfahrung bei den Art Days möchte ich auf jeden Fall aufbauen. Momentan bleibt nur zu sagen: Ein großes Danke und bis zum nächsten Mal!

Im Land der ewigen Sommersonne

Auf in den Norden! Zwölf Tage war ich mit meinem Bruder im Südwesten von Norwegen unterwegs. Wir wollten dorthin, wo die Landschaft von den Fjorden geprägt ist, raus in die Natur, aber noch in der Nähe der Stadt Bergen. Gelandet sind wir in Norheimsund, einem 4500-Seelen-Dorf, einem der bedeutendsten Orte am Hardangerfjord. In Norwegen sind die Dimensionen anders: wenig Menschen und beeindruckende Natur soweit das Auge reicht.

Erster Blick von unserer Terrasse: Hei, Norheimsund!

Unsere Unterkunft liegt gut versteckt auf dem Berg, natürlich inklusive einer schmalen Zufahrtsstraße in Serpentinen, die wir, egal ob per Mietauto oder zu Fuß, immer unter den neugierigen Blicken der Schafe passieren, die hier auf den saftigen, von Bächen durchzogenen Wiesen am Straßenrand weiden.

Am Steinsdalsfossen mit Blick Richtung Norheimsund – und einem kleinen Stückchen Regenbogen.

Unten am Beginn unserer Straße liegt der Steinsdalsfossen, einer der meistbesuchten Wasserfälle Norwegens. Er sieht nicht nur malerisch aus; auf einem kleinen Weg kann man unter dem Wasserfall hindurchgehen, ohne nass zu werden. Unter oder direkt vor den mächtigen Wassermassen zu stehen, die in die Tiefe fallen, fühlt sich unglaublich erfrischend an. Die kalte, tröpfchengeladene Luft auf der Haut zu spüren, hat etwas befreiendes.

Velkommen til Omastranda!

Zu Beginn unserer Reise ist das Wetter vielversprechend und beschert uns ein paar warme Sonnentage mit klarer Sicht. Wir erkunden die Umgebung auf vier Rädern und, wann immer mein Bruder eine geeignete Wanderroute ausfindig macht, zu Fuß. Sich in Norwegen in die Natur zu verlieben, ist wirklich unvermeidbar: An allen Berghängen sprudelt es, Wasserfälle tropfen in Rinnsalen vom Fels oder mit tosenden Massen ins Tal, werden zu reißenden Flüssen, die in den Fjord münden. Das Meerwasser des Fjords ist türkis wie im Süden, doch im Hintergrund thronen die Berge, bedeckt von Schneeflecken, denen die Sonne im Juni (noch) nichts anhaben kann.

Entlang unserer Erkundungstouren am Ufer des atemberaubenden Hardangerfjords kommen wir in das Mini-Dorf Oma – auf Norwegisch wahrscheinlich ein völlig unauffälliger Name. Direkt vor der Küste liegt die malerische kleine Insel Omaholmen.

Die Straßen wurden der Landschaft angepasst, nicht umgekehrt. Regelmäßig passieren wir Tunnel und Straßenabschnitte, die so eng werden, dass nur vorausschauendes Fahren und Anhalten bei Gegenverkehr möglich ist. Aber dafür ist Zeit. Im Sommer sowieso genügend für alles, denn es fühlt sich an, als würden die Tage nie enden. Die Sonne geht gegen elf Uhr abends irgendwo hinter den Bergen unter; selbst danach wird es nur leicht duster, nie tiefdunkel. Die Nacht, die den Winter unerbittlich beherrscht, macht im Sommer in großen Teilen des Landes einen ausgedehnten Urlaub.

Ein Regentag am Hardangerfjord…

In Norwegen lässt es sich besser atmen. Die Luft ist merklich frischer. Doch die Nähe zur Küste macht das Wetter in unserer Gegend unberechenbar. In diesen Genuss kommen wir einige Tage später, als der Sommer plötzlich beschließt aufzuhören und Berge und Fjord in geheimnisvollen Wolkennebel hüllt. Abwechselnd besuchen uns Niesel- und Starkregen, zwischendurch hellt der Himmel kurz auf, um einer neuen Regenwolkenfront Platz zu machen. Danach scheint die Landschaft zu dampfen und die Luft ist schwül.

…und noch ein Regentag, denn das Wetter möchte möglichst authentisch sein.

An einem dieser verregneten Tage fahren wir raus aus dem Gebirge zum offenen Meer. Die Fahrt geht über Bergen (die Stadt) und dann ein großes Stück nach Norden über viele kleine Inseln mit vielen runden Brücken. Die Landschaft ist hier noch sehr felsig, aber viel schroffer und rauer. Auf unserem Weg kommen wir immer wieder durch Ein-paar-Seelen-Dörfer.

Das offene Meer bei Hellesøy…

Neben einer Kirche führt hinter einem Weidengatter ein unscheinbarer Weg, der mehr oder weniger mit Steinen markiert ist, über die schroffe Landschaft in Richtung Meer. Wir hüpfen von Stein zu Stein, der Weg ist vom Regen – und allerlei Ziegenkot – stark in Mitleidenschaft gezogen. Am Meer angekommen, eröffnet sich vor uns ein felsiges, wildschönes Panorama. An einer größeren Stelle, wo die Felsen ein wenig flacher ins Meer führen, haben einige Besucher vor uns kleine Steintürme errichtet, die unbeeindruckt in den Himmel ragen und lautlos sagen: Ich war hier und bleibe.

…und ein Teil des Wanderpfades dorthin.

Unterwegs mit dem Auto fragt mein Bruder oft alle paar Kilometer: „Willst du hier mal anhalten und ein Foto machen?“ Denn die Natur ist hinter jedem Berg von Neuem beeindruckend. Ich entdecke alle möglichen Wasserfälle, will sie alle einfangen, doch die Bilder werden ihnen nie ganz gerecht, denn die Weite des Fjordes, die Höhe der Berge, die Kühle der Luft, den Geruch des Regens, den Strom des Wassers, die Tiefe des Meeres und der Wälder, die Stille der Seen, die spürt man nur vor Ort.

Bergsee bei Jondal.

Trotz der nicht enden wollenden Wolkendecke und des häufigen Regens in unserer zweiten Urlaubshälfte, sind wir so gut wie jeden Tag draußen unterwegs, erhaschen lokale Regenpausen, ziehen uns herbstlich an, laufen auch bei Wind und Niesel durch die Landschaft.

Wilde Natur am Wanderweg in einer Ferienhaussiedlung.

Einen Tag lang geht’s in die Stadt Bergen. Der Himmel ist wolkenverhangen, aber hält durch – in der regenreichsten Stadt Europas ist das ein Glücksfall. Mit seinen knapp 287.000 Einwohnern ist Bergen die zweitgrößte Stadt Norwegens und kulturell ganz schön bedeutend. Da zeitgleich zu unserem Stadtrundgang auch der CSD stattfindet (sogar die Busse fahren mit kleinen Regenbogen-Flaggen auf ihren Dächern!) ist die Innenstadt drängend voll. Wir verschaffen uns einen Überblick vom Hafen und den berühmten bunten Bryggen-Häusern. Dann kaufen wir ein One-Way-Ticket für die Standseilbahn, die auf den Fløyberg hinaufführt – einen der sieben Bergener Berge, die die Stadt umgeben. Hier oben haben wir nicht nur eine wunderbare Aussicht auf das komplette Stadtpanorama, sondern nutzen auch ein paar der kleinen Wanderrouten, die auf dem Berg verlaufen. Anschließend wandern wir bergab, immer mit Blick auf die Stadt, die uns langsam näherkommt.

Die Fløybanen kriecht auf den Fløyfjell hinauf.

Wieder bei uns in Norheimsund entdecke ich an der Hauptstraße, die vor unserem Wasserfall verläuft, eine alte, hübsch hergerichtete Telefonzelle. Außen erklärt ein Plakat: Ta en bok, gi en bok – Nimm ein Buch, gib ein Buch. Ich trete ein. Das alte Telefon ist noch immer erhalten und museumswert gepflegt. Daneben erstreckt sich von oben nach unten ein Regal mit mehreren Bücher-Reihen. Alle auf Norwegisch. Ich nehme eines der Bücher in die Hand, den Drageløperen von Khaled Hosseini.

Büchertausch-Telefonzelle mit dem Steinsdalsfossen im Hintergrund

Ich blättere einmal kurz durch und diese Sprache, die dem Deutschen so seltsam ähnlich und doch so fremd ist, springt mir entgegen. All diese Wörter mit ihren eigensinnigen nordischen å, ø und æ üben eine ungeahnte Anziehungskraft aus. Darf ich dieses Buch mitnehmen? Ich habe keins zum Tauschen dabei und obwohl ich meistens nicht abergläubisch bin, wage ich es nicht es mitzunehmen, ohne dafür ein anderes in die Lücke zu stellen, die es hinterlassen würde.

Ha det bra, Norge!

Wie es am Ende so vieler Urlaube der Fall ist, haben wir von Norwegen einen Eindruck bekommen, der Lust auf mehr macht. Für mich war es das perfekte Ziel für die erste Auslandsreise nach langer Zeit. Norwegen ist ein Land, in das es sich lohnt, immer wieder zurückzukehren – ein Fleck Erde, an dem alle weltlichen Normen und Alltagssorgen verblassen, weil die Natur so schön ist, dass ich wünschte, sie immer um mich zu haben, um mehr bei mir zu sein.

Du kan reise så langt du vil,
Du kannst reisen so weit du willst,
du kan velge en egen vei
du kannst einen eigenen Weg wählen
gjennom skog, over hav og fjell.
durch Wälder, über Meere und Berge.

Når verden er for stor
Wenn die Welt zu groß ist
og stien er alt for bratt
und der Pfad viel zu steil,
kan du vende blikket mot Nord.
kannst du den Blick gen Norden richten.

Stjernestøv [Aurora]

Allein im Dschungel

oder: Warum Pflanzen die besten Mitbewohner sind

Ich teile mein Einzimmer-Appartment mit 27 Mitbewohnern. Das ist praktischer als es klingt, denn: Sie verhalten sich geräuschlos, sorgen für eine gemütliche Atmosphäre und saubere Raumluft. Üblicherweise hören sie auf die Namen Monstera, Gynura, Maranta, Aloe Vera, Begonia Maculata und Co. Adoptiert wurden sie zum großen Teil um die Ecke, also in den nächstgelegenen Baumärkten. Zimmerpflanzen liegen voll im Trend. So richtig realisiert habe ich das erst, als meine bescheidenen Quadratmeter bereits von einer beachtlichen Grün-Truppe bevölkert wurde. Aber wie kam es dazu eigentlich? Wie haben es diese stillen Mitbewohner geschafft, zu einem Trend unter jungen Großstädtern zu werden? Und warum sind Pflanzen die neuen Social-Media-Stars, Hashtag #urbanjungle?

Was in den Köpfen und Blumentöpfen anderer Leute passiert, ist deren Sache. Betrachten wir das Ganze mal aus meiner subjektiven Sicht. Social Media hatte definitiv einen prägenden Einfluss auf meine Mitbewohner-Wahl, wenn auch nicht den entscheidenden. Vor ein paar Jahren sah ich ein YouTube-Video, in dem eine junge New Yorkerin ihre Wohnung vorstellte, die über und über mit Pflanzen bestückt war. Sie hatte das, was man sich wohl am ehesten unter einem echten „Urban Jungle“ vorstellt: eigentlich zu wenig Platz, um so viele Pflanzen zu beherbergen, aber irgendwie ging es dann doch. Und mit Pflanzen kann man es eigentlich nicht übertreiben, oder? Davon war ich nach dem Video jedenfalls überzeugt.

Wenig Platz effizient zu nutzen und gleichzeitig ästhetisch ansprechend zu gestalten, ist eine Kunst, die mich schon lange fasziniert. In den Innenstädten ist Wohnraum teuer, deswegen haben die meisten nicht zu viel davon. Trotzdem wollen wir das Gefühl haben, nicht eingeengt zu leben, sondern eine frische, lebendige Atmosphäre zu kreieren – und vielleicht auch ein eigenes Stück Natur zu hegen und zu pflegen. Als geborenes Schrebergartenkind bin ich froh, dass ich mir ein bisschen Natur in die eigenen vier Wände holen kann, allerdings ohne den Aufwand eines tatsächlichen Schrebergartens. Und ist es außerdem nicht praktisch, drinnen ein Stück draußen zu simulieren? Ich verbringe relativ viel Zeit zu Hause und lege deswegen großen Wert auf eine erholsame Umgebung. Nichts eignet sich dafür besser als Pflanzen. Manch einer mag darauf auch erst durch Lockdown und Ausgangssperren gestoßen sein.

Doch in meinem Fall gibt es noch einen sehr persönlichen Grund, der verantwortlich ist für mein Pflanzenrudel. Der geht so: Eigentlich hätte ich gern einen tierischen Mitbewohner gehabt, aber leider, leider, leider ist das bei meinen multiplen Allergien gar keine gute Idee. Und ich habe ja auch nur sehr wenig Platz, zu wenig für fast alle in Frage gekommenen Haustiere. Also müssen Pflanzen herhalten. Ob sich meine wie ein billiger Ersatz fühlen? Ich glaube nicht, im Gegenteil. Ich habe ihnen jede mögliche Ecke eingerichtet und alle Sonnen-, Halbschatten und Schattenplätze gewährt, die sich eignen. Langsam wird es knapp. Aber wie viele Pflanzen wirklich in ein Zimmer passen, ist reine Einstellungssache (übrigens genau wie bei Büchern, die andere Art von geräuschlosen Mitbewohnern).

Fazit: Pflanzen sind tolle Mitbewohner. Sie meckern nicht, sie halten still, sie müssen nicht Pipi. Sie sehen gut aus, reinigen die Luft, beruhigen meine Nerven und machen meinen Raum zu einer kleinen, feinen Oase. Na gut, manch eine hat auch mal ihre Tage und will partout nicht verraten, warum sie trotz meiner größten Bemühungen den Kopf hängen lässt. Das richtige Maß an Wasser und Dünger zu finden, ist nicht immer selbsterklärend. Oder möglicherweise ist sie dann doch neidisch auf meine nicht vorhandene Katze. Wer weiß. Aber vielleicht kommt ja irgendwann eine ganz neue Züchtung auf den Markt: die Pflanze, die antwortet.

Auf der Suche nach dem Traumleben

Warum ein Traumtagebuch den Unterschied macht

Wir alle träumen. Jede Nacht. Meistens können wir uns nur nicht daran erinnern. Wozu auch? Unsere nächtlichen Abenteuer sind schließlich nicht real. Und alles, was nicht real ist, ist irgendwie unwichtig und Unwichtiges wird nicht im Gedächtnis gespeichert. Logisch. Aber ist das wirklich so unwichtig? Einen großen Teil unseres Lebens verbringen wir schlafend, nämlich ein Drittel. Wäre es nicht ein Geschenk, auch während dieser Zeit Abenteuer zu erleben, anstatt dass wir unsere Träume buchstäblich verschlafen? Was passiert, wenn wir anfangen, uns aktiv mit unseren Träumen zu beschäftigen? Ich wollte es wissen. Mittlerweile läuft mein kleines Experiment schon seit einiger Zeit – um genau zu sein seit dem Frühjahr 2017.

Seitdem führe ich ein Traumtagebuch. Das ist ein besonderes Tagebuch, in das ich direkt nach dem Aufwachen hineinschreibe, was ich geträumt habe – und das ist gar nicht so einfach, wie es klingt. Manchmal drehe ich mich einmal zu viel um und schwupps, wird mein Traum unklar und ich kann mich an kein Detail mehr erinnern, nur ein undefinierbares Gefühl bleibt zurück. Um Träume aufzuschreiben, ist Schnelligkeit alles. Doch daran mangelt es im Halbschlaf fast immer. Mit der Zeit ist meine Traumerinnerung immer besser geworden. Wenn ich mal eine Phase habe, in der mir meine Träume weniger wichtig sind und ich mich nicht mit ihnen beschäftige, nimmt diese Fähigkeit merklich ab. Doch kaum interessiere ich mich wieder stärker für das Thema, erinnere ich mich sehr oft und sehr lebhaft an meine Traumerlebnisse. In meinen Träumen gibt es wiederkehrende Orte und Personen, manche fiktiv, andere halbfiktiv aus Realem und Geträumtem zusammengesetzt. Das Faszinierende ist, dass alles, was im Traum auftaucht, aus einem selbst heraus entsteht. Mit Bleistift kritzle ich die Abenteuer der letzten Nacht nieder und suche darin nach dem roten Faden. Warum ich das mache? Das Ziel ist seit Jahren ein und dasselbe: Luzides Träumen.

Ein luzider Traum ist ein Traum, in dem dir bewusst wird, dass du gerade träumst. Dadurch kann man aktiv auf das Geschehen im Traum Einfluss nehmen und ihn nach den eigenen Wünschen formen. Wer würde nicht gern fliegen oder durch Wände gehen können? Im Traum ist alles möglich. Und im Gegensatz zu einem Tagtraum fühlt sich ein luzider Traum ungemein real an. Wäre es nicht traumhaft, eine alternative Realität zu erleben, die wir mit allen fünf Sinnen wahrnehmen können, aber selbst formen und entscheiden, was wir erleben möchten? Für mich hört sich das so unglaublich an, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass es da draußen Menschen gibt, die das nicht gern könnten – wenn sie denn nur davon wüssten, dass so etwas überhaupt möglich ist.

Es heißt, dass jedes Kind luzid träumen kann. Im Laufe des Erwachsenwerdens verlieren die meisten diese Fähigkeit. Erst dann lernt so manch eine/r, was es mit dem luziden Träumen auf sich hat und möchte es wieder erlernen. So geht es mir. Um überhaupt luzid träumen zu können, ist der wichtigste Zwischenschritt, sich regelmäßig an die eigenen Träume zu erinnern. Ein Traumtagebuch ist dafür die wohl beste Methode. Damit suggeriere ich meinem Gehirn: „Hey, meine Träume sind mir wichtig, ich will mich daran erinnern!“

Erzwingen lässt sich ein luzider Traum aber nicht, im Gegenteil. Übung hilft, also das Führen des Tagebuchs, sogenannte Realitäts-Checks, vor allem aber ein Trick, der so banal wie naheliegend ist: die Beschäftigung mit dem Thema während des Wachseins. Im Internet zirkulieren zahlreiche Methoden, die das luzide Träumen begünstigen sollen, deswegen erspare ich mir eine komplette Anleitung. Nur so viel sei gesagt: Neben einem Traumtagebuch ist ausreichender Schlaf und ein regelmäßiger Rhythmus wichtig. Oft ist die Traumerinnerung dann besonders stark, wenn man morgens kurz aufwacht und dann nochmal einschläft. Außerdem kann es wirksam sein, sich im Laufe des Tages immer mal zu fragen, wie man an einen bestimmten Ort gekommen ist und zu visualisieren, was man vor der aktuellen Handlung eigentlich getan hat. Im Gegensatz dazu passiert im Traum nämlich alles einfach so, ohne Kontext. Und das kann der entscheidende Punkt sein, der zur Bewusstwerdung führt und eine Steuerung des Traums ermöglicht.

Obwohl ich mich immer besser an meine Träume erinnern kann, sind die Szenen und die Gefühle, die ich erlebe, oft so nah an meiner realen Realität, dass ich leider extrem selten merke, dass ich träume. Letztlich spielt Entspannung meiner Meinung nach eine Hauptrolle. Wer sich oft gestresst und unter Druck fühlt, wird dies auch in Träumen erleben – dann zu realisieren, dass das alles nicht real ist, ist ein Kunststück, auf das mein Unterbewusstsein meistens keine Lust hat. Aber ich gebe nicht auf. Die Fähigkeit zum luziden Träumen kann sich in jeder Lebensphase ändern, also sich verbessern oder auch wieder abnehmen. Allein die Erinnerung an meine Träume ist bereits wahnsinnig aufschlussreich. Ich sehe darin Muster, wiederkehrende Themen und manchmal auch Probleme, die meinem Unterbewusstsein offenbar sehr wichtig sind, die ich im wachen Zustand aber lieber wegschiebe. Träume lügen nicht. Ich bin mittlerweile überzeugt: Wer verstehen will, wer er oder sie wirklich ist, sollte anfangen, sich mit den eigenen Träumen zu beschäftigen. Luzide Träume sind dann eher das Sahnehäubchen.

Street Art in Leipzig — ein Streifzug

Leipzig ist nicht Berlin, auch wenn der Vergleich immer wieder herangezogen wird, damit Leipzig noch hipper erscheint, als es eh schon ist. In Sachen Street Art habe ich jedenfalls keine Wunderwerke erwartet. Zu recht?

Es grüßt das Plagwitzer Zauberkrokodil mit Familie.

Kürzlich habe ich mich mit offenen Augen auf ein paar Streifzüge begeben und bewusst nach allen Ausdrucksformen der Graffiti Ausschau gehalten. Dabei habe ich keinen Unterschied zwischen dekorativen Auftragswerken und aufwendig bis schnell hingesprühten Tags gemacht, ob legal oder illegal, sondern alles, was ich finden konnte, auf mich wirken lassen.

Drück drauf am Kunstkraftwerk

Eins vorab: Die Leipziger Graffiti-Szene ist aktiv und allseits präsent. Natürlich gibt es nicht die Szene, denn dafür sind die Werke viel zu divers — divers genug, um die uralte Frage aufzuwerfen: Was ist Kunst? Und: Was will und soll Kunst überhaupt?

Es lebe die Popkultur — an der Karl-Heine-Straße

Prägnante, sehenswerte Wandmalereien und Paste-ups (Plakate und Drucke, die an Fassaden angeklebt werden) kondensieren sich in ausgewählten Stadtteilen, allen voran im Leipziger Westen. In Plagwitz lässt sich eine Art Best Of Street Art bewundern und die kreativen Ausdrucksformen scheinen grenzenlos. Kunst ist hier von Haus aus ins Stadtbild integriert.

Nicht sicher vor ungefragten Ergänzungen — zwei der bekanntesten Graffiti auf der Karl-Heine-Straße

Die zahlreichen Galerien und Ateliers auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei und das nur wenige Schritte entfernte Kunstkraftwerk, zementieren Plagwitz‘ Status als kunstaffinstes Leipziger Stadtviertel. Allein auf dem Gelände dieser beiden Kult(ur)stätten haben sich zahlreiche Street Artists verewigt. In keinem anderen Stadtviertel ist Street Art derart experimentell und trägt zur Identität des Stadtbildes bei.

Freiheit aushalten / Bunte Kugeln / Respect Street Art
Best Of Paste-ups auf dem Spinnerei-Gelände in Plagwitz

Viele Auftragswerke, die im Leipziger Stadtgebiet verteilt sind, tragen die Signatur des in Connewitz ansässigen Graffitiverein e. V., der zahlreiche Fassaden von Wohngebäuden, Kitas und Schulen dekoriert hat. Die Malereien sind schön anzusehen und werten die Gebäude meistens stark auf. Die Präsenz des Graffitivereins zeigt, dass in der Stadt Akzeptanz für Straßenkunst aufgebracht wird. Mir als Betrachterin sagt die Signatur des Graffitivereins: Öffentliche Malerei wird so wertgeschätzt, dass sich Auftraggeber finden, die bereit sind, dafür Geld zu bezahlen. Straßenkunst ist so schick und in, dass auch öffentliche Einrichtungen ihr Image damit aufwerten möchten.

Zentrumsnahe Werke des Grafittiverein e. V.

Dagegen steht die Präsenz vieler anderer Sprühambitionen. Ist das Street Art oder kann das weg?, frage auch ich mich oft beim Anblick der unzähligen geschmierten Wörter, die die Hauswände der Stadt überziehen. Was häufig nach sinnlosen Verunstaltungen und ungebetenen ersten Graffiti-Übungen aussieht, wird in aller Regel illegal angebracht und wirft in meinen Augen doch immer wieder die eine drängende Frage auf: Wem gehört eigentlich die Stadt?

Mir?

Hinter so manchen Kürzeln verbergen sich rivalisierende Graffiti-Kollektive, die um die visuelle Vorherrschaft im Stadtviertel buhlen. Einige dieser sogenannten Tags lassen sich im ganzen Leipziger Stadtgebiet beobachten. Da wäre allen voran SNOW, ein Tag, der für „Süden, Norden, Osten, Westen“ steht, und sich seit den 90er Jahren erfolgreich an nahezu jeder Straßenecke festgesetzt hat. Auch andere Graffiti-Crews haben sich in der Messestadt verewigt. Ins Auge stechen mir immer wieder TACO, UKI, RCS, ORG und andere Verdächtige. Die Menge an Crew- und Einzel-Tags kennt keine Grenzen. Dahinter verbirgt sich die heimliche Welt der Sprayer*innen, deren Kürzel als stumme Zeugen nach nächtlichen Aktionen das Tageslicht erblicken und Nicht-Eingeweihten ein Rätsel aus unverständlichen Buchstabenkombinationen bleiben. Ist das nun Sachbeschädigung oder, wie Mitstreiter*innen des SNOW-Kollektivs in einem Interview behaupteten, bloße Sachveränderung? Und wenn ja, wozu?

Beispiele „viraler“ Tags

Neben allerhand Tags gibt es noch die „sprechenden“ Hauswände, die von Sprüchen bevölkert werden, die wenig dekorativen Wert haben, sondern pinnwandartig mit mir als Fußwegpassantin in Kontakt treten. Manche haben etwas zu sagen, andere wollen nur smalltalken. „Why is it so dark in here?“, fragt mich eine Reudnitzer Hauswand. Ob sie die Besprühung verdient hat, ist eine andere Frage. Ironische und vor allem unbequeme Fragen sind bekanntermaßen keine Auftragswerke.

Ja, warum eigentlich? Dunkel, dreckig, Reudnitz eben.

Meine bisherigen Streifzüge haben viel Licht ins Dunkel gebracht und noch mehr Fragen aufgeworfen. Die Welt der Street Art ist ein eigenes Universum mit eigenem Vokabular und Insider-Wissen, das sich nur bedingt im Netz recherchieren lässt. Doch ich werde weiter mit wachem Blick nach gesprühten Botschaften und versteckten Kunstwerken Ausschau halten. In diesem Sinne: Bis zum nächsten Streifzug!

„Gridalo“ – Manifest der Zivilcourage

Wir leben in einer Welt, in der es machbarer scheint, fremde Planeten zu besiedeln, anstatt den Klimawandel abzuwenden. Zukunftsdystopien haben längst gewonnen und Utopien sind nur noch was für Realitätsverweiger*innen. Wer fühlt sie nicht? Die Ohnmacht im Angesicht der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und die Unbedeutung des eigenen Lebens, obwohl wir doch so vernetzt sind wie nie zuvor. Du bist nur ein kleiner Mensch. Was kannst du schon bewirken?

Mehr als du denkst. Denn Geschichte wird von Menschen geschrieben und es sind die Geschichten von Einzelpersonen, die das große Ganze formen. Wenn Lebensgeschichten eine Stimme hätten, dann würden einige von ihnen besonders laut schreien. Es sind keine blinden Wutschreie, sondern Schreie der Empörung, die für das Leben einstehen, es verteidigen, es feiern. Schreie des Widerstandes gegen schreiende Ungerechtigkeiten, ein Aufruf zur Menschlichkeit, jener Menschlichkeit, deren Würde mehr wiegt als die Macht jeglicher politischen und wirtschaftlichen Systeme, mehr als die Willkür derer, die das Leben verachten.

Ein Buch wie ein Schutzschild

Im Oktober letzten Jahres erschien Roberto Savianos neues Buch „Gridalo“ – zu deutsch etwa: „Schrei es hinaus!“ Darin treffen wir auf Menschen, die für ihre Ideen und Überzeugungen eingestanden, sie mit jeder Faser ihres Seins verteidigt haben – und dafür einen hohen Preis zahlen mussten, oft keinen geringeren als ihr Leben. Saviano versammelt in seinem neuen Buch zahlreiche Persönlichkeiten, manche bekannt, manche unbekannt; Menschen, die Bewundernswertes geleistet, sich für Freiheit und Menschenrechte stark gemacht haben und trotzdem keine Heiligen waren, sondern Personen mitten aus dem Leben; Menschen, die scheinbar zur falschen Zeit am falschen Ort waren; aber auch Menschen, deren hasserfüllte Weltbilder wir zuerst demaskieren müssen, um ihnen dann entschieden entgegentreten zu können. Saviano möchte den Blick seiner Leser*innen schärfen und setzt viele Perspektiven zu einem Mosaik zusammen.

Auf dem Buchrücken heißt es: „Schrei hinaus, dass alles sich ändern kann. Schrei es laut. Ich möchte dich an einen Punkt mitnehmen, an dem du dich verlieren wirst. An den Punkt, an dem ich angekommen bin, damit du von dort aus aufbrechen kannst, wo ich nicht weitergekommen bin. Ich möchte nicht, dass du Wege zurücklegst, die schon festgetreten sind und die dich auf einem vorgezeichneten Pfad festhalten. Ich möchte dir keine Vorsicht lehren, im Gegenteil: Ich möchte dich an den Punkt führen, an dem Vorsicht zum Wagnis werden muss, und Weisheit zu Wagemut, denn vielleicht schafft man es nur so, einen neuen Weg zu zeichnen.“

Bevor wir uns auf den Weg machen, gibt Saviano den Leser*innen eine Karte in die Hand. Es ist keine gewöhnliche Karte, die zur besseren Orientierung dient, sondern eine Art moralischer Kompass, der ins Dickicht der entscheidenden Lebensfragen führt:

Die Landkarte in „Gridalo“: ein moralischer Kompass, der es in sich hat.

Mit dieser Landkarte unbequemer Fragen im Gepäck treffen wir auf Menschen, deren Geschichten eine Antwort sein können, Geschichten anhand derer Saviano Position bezieht und die einen oft sprachlos zurücklassen. Wir treffen beispielsweise Ipazia, Giordano Bruno, Anna Achmatowa, Robert Capa, Jean Seberg, Martin Luther King, Francesca Cabrini, Anna Politkowskaja, Jamal Khashoggi, Edward Snowden, Daphne Caruana Galizia und sogar George Floyd. Auch vor den Geschichten unerwarteter Personen schreckt Saviano nicht zurück, im Gegenteil. So wird zum Beispiel Joseph Goebbels‘ Psyche zum Lehrstück darüber, wie Propaganda funktioniert und wie wir sie entlarven können, um ihr nicht zum Opfer zu fallen. Emotional am stärksten hat mich allerdings die Geschichte eines jungen italienischen Architekten-Paares getroffen, die nach London ausgewandert sind, um ihr Glück fernab ihrer krisengebeutelten Heimat zu finden – doch dann kam auf tragische Weise alles ganz anders.

Die Auswahl der Geschichten wurde sorgsam getroffen und basiert offensichtlich auf den Einflüssen, die bestimmte Personen auf Saviano hatten. Damit ist es sein bisher persönlichstes Buch. Mitunter schreibt er in der Du-Form, wendet sich damit mal an die Leserschaft, mal an sein jüngeres Ich. Zwischen all diesen eindrücklichen Geschichten, die gleichzeitig ins Mark treffen und unheimlich lehrreich sind, fehlt allerdings eine, vielleicht die wichtigste. Die von Roberto Saviano selbst. Seine eigene findet sich in Spuren überall im Buch, denn sie ist eingewebt in die Erzählungen, die er ausgewählt hat. Ich möchte einen Versuch unternehmen, Savianos Geschichte zu ergänzen, wenn auch nur in einer Kurzform, die ihm nicht gänzlich gerecht wird.

Roberto hat sich in seinem eigenen Leben früh entschieden, wofür er einsteht. Mit gerade einmal 26 Jahren veröffentliche er sein Erstlingswerk „Gomorrha“, in der er detailliert die Machenschaften der Camorra, der neapolitanischen Variante der Mafia, beschreibt und anprangert. Diese mit Fakten aufgeladene Nonfiction-Novel ist stets weit mehr gewesen als ein Tatsachenbericht, sondern bezieht eindeutig Position: Die Camorra und das organisierte Verbrechen zerstören seine Heimatstadt Neapel, unterwandern die italienische Politik, sind gefährlich erfolgreiche Player auf der Bühne der internationalen Wirtschaft. Ihre Macht gründet sich auf Einschüchterung und Mord, umgeben aus Mauern des Schweigens in einem Klima der Angst. Seit eh und je wird Roberto vorgeworfen, er habe in seinem Erstlingswerk nichts Neues erzählt. Na und?

Roberto hat es geschafft, die Camorra auf eine Weise zu erzählen, die tausenden Menschen die Augen geöffnet und das Thema in die internationale Öffentlichkeit katapultiert hat. Es gibt eine Zeit vor „Gomorrha“ und eine danach, ein Erdstoß, der seinesgleichen sucht. Seither wird Roberto beschuldigt, er sei darauf aus, sich auf Kosten des guten Rufes Neapels und Italiens zu bereichern. Der Überbringer der schlechten Nachrichten wird zur größeren Zielscheibe als die eigentlichen Urheber des Übels. Es ist eine Parabel, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder funktioniert hat und die auch in „Gridalo“ ein Hauptthema ist. Und dabei hat ein junger Mann für sein Buch lediglich den richtigen Ton gefunden, der die Leserschaft italien-, europa- und weltweit so getroffen hat, dass diese Geschichten auch die unseren geworden sind.

„Gomorra“ (2006)

„Gomorrha“ (auf Deutsch mit h) verkaufte sich so gut, dass die Protagonisten – die kriminellen Clans der Camorra und ihre Ableger – das Buch nicht mehr ignorieren konnten. So viel Aufmerksamkeit schadet dem organisierten Verbrechen, das am besten in völliger Dunkelheit fernab des öffentlichen Schlaglichtes operiert und floriert. Je mehr Menschen Roberto zuhörten, desto mehr Morddrohungen erreichten ihn. Schon bald bekam er die Gewalt der Macht, mit der er sich angelegt hatte, zu spüren, als sein Buch sich nach der Erscheinung immer rasender verkaufte – bis heute weit über 2 Millionen allein in Italien und 10 Millionen weltweit, übersetzt in 52 Sprachen. Nach wiederholten Morddrohungen vonseiten der Clans, die in seinem Buch im Zentrum stehen, griff der italienische Staat ein und stellte Roberto unter Polizeischutz. Seither lebt er unter strengen Sicherheitsvorkehrungen an wechselnden Orten, teilweise im Ausland, stets mit einem mehrköpfigen Personenschutz an seiner Seite.

In Italien gibt es wahrscheinlich kaum eine Person, die keine Meinung über Roberto Saviano hat, natürlich unabhängig davon, ob seine Bücher gelesen wurden oder nicht. Er ist Nestbeschmutzer, Sündenbock, Hassfigur auf der einen und Antimafiaheld, Vorbild, Gewissen der Nation auf der anderen Seite. Roberto hat sich seit jenem verhängnisvollen Jahr 2006 nicht unterkriegen lassen und kämpft. Jeden Tag. Er ist präsent mit seinen Artikeln in großen Tageszeitungen, mit kritischen TV-Beiträgen, auf Social Media, längst nicht mehr nur zu Themen des organisierten Verbrechens, sondern als Multiplikator der Anliegen vieler Aktivist*innen und als Erklärer unzähliger politischer Zusammenhänge. Dank der großen öffentlichen Aufmerksamkeit ist er weiterhin Zielschiebe täglicher Schmähkommentare und Verleumdungen, aber gleichzeitig vor dem langen Arm seiner Widersacher geschützt.

Manchmal, in stillen Momenten, vielleicht darf Roberto dann auch kurz das sein, was wir alle sind: ein Mensch, kein Symbol. Einer, der unumstößlich an die Kraft des Wortes glaubt und davon überzeugt ist, dass sie den Lauf der Welt verändern kann. Stell dir vor, kein Mensch hätte sich für „Gomorrha“ interessiert und es wäre in den Bücherläden verstaubt… Deswegen wird Roberto nie müde zu sagen, dass es nicht Bücher sind, die den Mächtigen Angst einjagen, nein, es sind die Leser*innen, die vielen, vielen Augen, die diese Geschichten aufsaugen und zu ihren eigenen erklären. Erst dann bekommen Worte ein Gewicht, das die Mächtigen in Bedrängnis bringt. Lesen ist deshalb kein passiver Zeitvertreib, sondern eine aktive Schulung des Geistes, die Veränderung anstoßen kann.

„Gridalo“ erscheint 14 Jahre nach „Gomorrha“ und präsentiert sich als Quintessenz all jener Persönlichkeiten und Geschehnisse, die Robertos Denken in seinem Leben unter Polizeischutz bisher geprägt haben. Es ist für mich mehr als ein Buch, das ich ins Regal stelle, sobald es ausgelesen ist; es ist eines der seltenen Bücher, die mit der Stimme eines Freundes sprechen, der dich bestärkt, dich auffängt, dich lehrt, dich aufwühlt, dich auffordert dort hinzuschauen, wo es am unangenehmsten ist – weil er dein Bestes will, nicht möchte, dass du die gleichen Fehler machst wie er, sondern deine eigenen begehst. Und dir die Welt mit seinem Blick zeigt, der dir so vertraut und trotzdem immer wieder neu ist. Um es mit den Worten J. D. Salingers zu sagen: „Was mich richtig umhaut, sind Bücher, bei denen man sich wünscht, wenn man es ganz ausgelesen hat, der Autor, der es geschrieben hat, wäre irrsinnig mit einem befreundet und man könnte ihn jederzeit, wenn man Lust hat, anrufen.“

↑ Hier im Bild: Weihnachten, Geburtstag und alle anderen Feste zusammen. ٩(˘◡˘)۶

Ich bin nur ein Mensch, einer wie alle anderen, die wir uns gleichen und doch so unterschiedlich sind; mit all unseren Geschichten schreiben wir gemeinsam Geschichte. Du kannst einen Unterschied machen, weil genau du in der Welt bist. Beim Lesen von „Gridalo“ habe ich durchweg ein Gefühl tiefer Dankbarkeit darüber verspürt, dass ich Italienisch als meine zweite Fremdsprache erwählt habe – meine über alles geliebte Adoptivsprache, die mich fast jeden Tag bereichert. Trotzdem bin ich schon sehr gespannt auf die deutsche Übersetzung und kann es kaum abwarten, sie zahlreich zu verleihen und zu verschenken.

Schrei, dass alles sich ändern kann.
Schrei, wenn auch in dir die Gewissheit zu siegen droht, dass sich niemals etwas ändern wird.
Gridalo che tutto può cambiare. Gridalo forte.

R. S.

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