Gegenüber der S-Bahn-Station am Bayrischen Bahnhof herrscht reges Flattern. Zwei dunkelgrüne übereinandergestapelte Schiffscontainer lassen kaum erahnen, was sich im Inneren befindet: auf der oberen Etage ein umgebautes „Taubenloft“, das mittlerweile voll ausgelastet ist und 180 Tauben ein Zuhause bietet; auf der unteren Etage ein Lagerraum voller Utensilien, die für die Versorgung der Vögel und die Pflege des Taubenschlages gebraucht werden. Gesponsert wurde der Schlag von der Deutschen Bahn, die damit die Tauben aus der unterirdischen S-Bahn-Station direkt nebenan herauslocken möchte. Loris kam unkompliziert per Instagram-Nachricht zu seinem neuen Ehrenamt und hilft jede Woche am Bayrischen Bahnhof aus. „Ich mag Tauben. Ich sehe die häufig in der Stadt und habe mich gefragt, ob man denen helfen kann.“ Kommen Tauben nicht alleine klar? Ich frage ihn wie andere auf seine neue Freizeitbeschäftigung reagieren. Er winkt ab: „Negative Kommentare gab es bis jetzt noch keine. Viele sind fasziniert und fragen, was man da überhaupt macht.“
Ehrenamtliche packen an
Die Leipziger Stadttaubenhilfe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gefiederten Stadtbewohner artgerecht zu versorgen, bei Notfällen tiermedizinische Hilfe zu vermitteln und über die Lebenssituation von Tauben aufzuklären. Im Stadtgebiet verteilt betreut der Verein insgesamt drei Taubenschläge. Dort bekommen die Vögel artgerechtes Körner-Futter, eine sichere Nist- und Rückzugsmöglichkeit. Frisch gelegte Eier tauschen die Ehrenamtlichen gegen Gips-Attrappen aus, um sowohl die Population in Grenzen zu halten als auch künftiges Taubenleid zu verringern. Die Stadttaubenhilfe folgt damit dem sogenannten Augsburger Modell, das sich deutschlandweit als Erfolgskonzept etabliert. Es setzt auf betreute Taubenschläge, die an Hotspots wie Bahnhöfen, an denen viele Tauben brüten, aufgestellt werden. Besonders der größte Taubenschlag am Bayrischen Bahnhof setzt dieses Modell konsequent um. Henrike, die zum Vorstand der Stadttaubenhilfe gehört, gibt mir nähere Einblicke in die Vereinsarbeit. 2013 begann eine Handvoll Engagierter aus dem Tierschutz sich in Leipzig für Stadttauben einzusetzen, inspiriert von den bereits bestehenden Stadttaubenhilfe-Vereinen in Berlin und Hamburg. Erst 2019 sei die Gründung als Verein erfolgt. Alles läuft spendenbasiert und rein ehrenamtlich. Henrike erzählt, dass sie selbst in der Corona-Zeit zur Stadttaubenhilfe gekommen sei: „Damals gab es diese Artikel im Internet, dass die Tauben durch den Lockdown in der Stadt nichts mehr zu fressen finden und verhungern. Da wollte ich etwas tun.“
Tauben brauchen Schutz
Die heutigen Stadttauben sind die Nachfahren von Haus- und Brieftauben, die früher für ihr Fleisch, ihre Eier und ihre Funktion als verlässliche Postboten geschätzt und gezüchtet wurden. Mit dem Verlust ihrer Nützlichkeit schwand ihr positives Image. Ihre Nachkommen verkamen zu Störenfrieden, die um Futter betteln und im Verdacht stehen, Krankheiten zu übertragen und mit ihrem Kot Hausfassaden zu zersetzen. Dabei werden die Schäden, die man ihnen nachsagt, in jeder Hinsicht massiv überschätzt. Futtermangel, falsche Ernährung durch Angewiesensein auf Essensreste und Verletzungsrisiken durch herumliegenden Müll setzen ihnen in der Stadt zu. Um ein artgerechtes, langes Leben führen zu können, brauchen sie die Unterstützung der menschlichen Stadtgesellschaft. Ich laufe ein paar Mal im Tauben-Container mit und kenne schon bald die Routine: Eier tauschen, Wassertränken erneuern, Kot entfernen, neues Streu verteilen, Futter-Raufen befüllen, schauen, ob es den Tauben gut geht. Ein Taubenschlag an einem belebten Knotenpunkt zieht auch viele neugierige Blicke auf sich. „Ich ekel mich ja schon vor denen…“, meint eine Passantin nachdem ich ihr erkläre, dass hier Stadttauben versorgt werden. Die Abneigung gegen die gefiederten Stadtbewohner sitzt bei vielen tief. Warum eigentlich? „Kennt man ja so, die Ratten der Lüfte“, antwortet sie schlicht.
Stadtverwaltung als Herausforderung
Anhaltendes Konfliktthema ist für die Stadttaubenhilfe die fehlende Kooperation mit der Stadt Leipzig. Dazu Henrike: „Die Stadt behauptet, es gäbe kein Taubenproblem. Dabei ist der Taubensport und die -züchtung erlaubt, wodurch noch mehr Tauben in die Stadt kommen.“ Auf eine Anfrage der Linkspartei an die Stadt Leipzig zum Umgang mit Stadttauben antwortet das Ordnungsamt, dass der Stadttaubenhilfe-Verein bekannt sei und begrüßt werde, aber keine finanzielle Unterstützung erhalte. Die Fachförderrichtlinie zur Unterstützung von Tierschutzarbeit in Sachsen gelte hauptsächlich für Heimtiere, worunter Stadttauben per Definition nicht fallen. Da sie durch ihre Abstammung von Haustieren aber auch nicht als Wild- und Fundtiere betrachtet werden können, sieht sich die Stadt nicht in der Verantwortung, finanzielle Hilfen beizusteuern. Als verwilderte Haustiere leben Tauben in einer Grauzone. Henrike merkt an, dass vonseiten der Stadt das Veterinäramt zumindest bei Impfaktionen unterstütze, auch wenn die Expertise der Ehrenamtlichen dort bisher nicht ernstgenommen werde. Langfristiges Ziel sei es, „die Stadt zu knacken“: „Wir wollen erreichen, dass sie einsieht, dass es ihre Verpflichtung ist, sich um die Tauben zu kümmern, aber auch zu ihrem Vorteil — und dafür kann unser Erfahrungsschatz genutzt werden.“ Optimistisch stimmt Henrike die zunehmende Bekanntheit des Vereins, bedingt durch Infostände, Präsenz auf Social Media und ein zunehmendes mediales Interesse. Hoffnung machen die zahlreichen privaten Spender und ein wachsendes Team an Ehrenamtlichen, denen es am Herzen liegt, sich für ein würdiges Stadttaubenleben einzusetzen — aller Herausforderungen zum Trotz.
[Diese Reportage ist im Rahmen eines Seminars entstanden.]