Auf in den Norden! Zwölf Tage war ich mit meinem Bruder im Südwesten von Norwegen unterwegs. Wir wollten dorthin, wo die Landschaft von den Fjorden geprägt ist, raus in die Natur, aber noch in der Nähe der Stadt Bergen. Gelandet sind wir in Norheimsund, einem 4500-Seelen-Dorf, einem der bedeutendsten Orte am Hardangerfjord. In Norwegen sind die Dimensionen anders: wenig Menschen und beeindruckende Natur soweit das Auge reicht.
Unsere Unterkunft liegt gut versteckt auf dem Berg, natürlich inklusive einer schmalen Zufahrtsstraße in Serpentinen, die wir, egal ob per Mietauto oder zu Fuß, immer unter den neugierigen Blicken der Schafe passieren, die hier auf den saftigen, von Bächen durchzogenen Wiesen am Straßenrand weiden.
Unten am Beginn unserer Straße liegt der Steinsdalsfossen, einer der meistbesuchten Wasserfälle Norwegens. Er sieht nicht nur malerisch aus; auf einem kleinen Weg kann man unter dem Wasserfall hindurchgehen, ohne nass zu werden. Unter oder direkt vor den mächtigen Wassermassen zu stehen, die in die Tiefe fallen, fühlt sich unglaublich erfrischend an. Die kalte, tröpfchengeladene Luft auf der Haut zu spüren, hat etwas befreiendes.
Zu Beginn unserer Reise ist das Wetter vielversprechend und beschert uns ein paar warme Sonnentage mit klarer Sicht. Wir erkunden die Umgebung auf vier Rädern und, wann immer mein Bruder eine geeignete Wanderroute ausfindig macht, zu Fuß. Sich in Norwegen in die Natur zu verlieben, ist wirklich unvermeidbar: An allen Berghängen sprudelt es, Wasserfälle tropfen in Rinnsalen vom Fels oder mit tosenden Massen ins Tal, werden zu reißenden Flüssen, die in den Fjord münden. Das Meerwasser des Fjords ist türkis wie im Süden, doch im Hintergrund thronen die Berge, bedeckt von Schneeflecken, denen die Sonne im Juni (noch) nichts anhaben kann.
Die Straßen wurden der Landschaft angepasst, nicht umgekehrt. Regelmäßig passieren wir Tunnel und Straßenabschnitte, die so eng werden, dass nur vorausschauendes Fahren und Anhalten bei Gegenverkehr möglich ist. Aber dafür ist Zeit. Im Sommer sowieso genügend für alles, denn es fühlt sich an, als würden die Tage nie enden. Die Sonne geht gegen elf Uhr abends irgendwo hinter den Bergen unter; selbst danach wird es nur leicht duster, nie tiefdunkel. Die Nacht, die den Winter unerbittlich beherrscht, macht im Sommer in großen Teilen des Landes einen ausgedehnten Urlaub.
In Norwegen lässt es sich besser atmen. Die Luft ist merklich frischer. Doch die Nähe zur Küste macht das Wetter in unserer Gegend unberechenbar. In diesen Genuss kommen wir einige Tage später, als der Sommer plötzlich beschließt aufzuhören und Berge und Fjord in geheimnisvollen Wolkennebel hüllt. Abwechselnd besuchen uns Niesel- und Starkregen, zwischendurch hellt der Himmel kurz auf, um einer neuen Regenwolkenfront Platz zu machen. Danach scheint die Landschaft zu dampfen und die Luft ist schwül.
An einem dieser verregneten Tage fahren wir raus aus dem Gebirge zum offenen Meer. Die Fahrt geht über Bergen (die Stadt) und dann ein großes Stück nach Norden über viele kleine Inseln mit vielen runden Brücken. Die Landschaft ist hier noch sehr felsig, aber viel schroffer und rauer. Auf unserem Weg kommen wir immer wieder durch Ein-paar-Seelen-Dörfer.
Neben einer Kirche führt hinter einem Weidengatter ein unscheinbarer Weg, der mehr oder weniger mit Steinen markiert ist, über die schroffe Landschaft in Richtung Meer. Wir hüpfen von Stein zu Stein, der Weg ist vom Regen – und allerlei Ziegenkot – stark in Mitleidenschaft gezogen. Am Meer angekommen, eröffnet sich vor uns ein felsiges, wildschönes Panorama. An einer größeren Stelle, wo die Felsen ein wenig flacher ins Meer führen, haben einige Besucher vor uns kleine Steintürme errichtet, die unbeeindruckt in den Himmel ragen und lautlos sagen: Ich war hier und bleibe.
Unterwegs mit dem Auto fragt mein Bruder oft alle paar Kilometer: “Willst du hier mal anhalten und ein Foto machen?” Denn die Natur ist hinter jedem Berg von Neuem beeindruckend. Ich entdecke alle möglichen Wasserfälle, will sie alle einfangen, doch die Bilder werden ihnen nie ganz gerecht, denn die Weite des Fjordes, die Höhe der Berge, die Kühle der Luft, den Geruch des Regens, den Strom des Wassers, die Tiefe des Meeres und der Wälder, die Stille der Seen, die spürt man nur vor Ort.
Trotz der nicht enden wollenden Wolkendecke und des häufigen Regens in unserer zweiten Urlaubshälfte, sind wir so gut wie jeden Tag draußen unterwegs, erhaschen lokale Regenpausen, ziehen uns herbstlich an, laufen auch bei Wind und Niesel durch die Landschaft.
Einen Tag lang geht’s in die Stadt Bergen. Der Himmel ist wolkenverhangen, aber hält durch – in der regenreichsten Stadt Europa ist das ein Glücksfall. Mit seinen knapp 287.000 Einwohnern ist Bergen die zweitgrößte Stadt Norwegens und kulturell ganz schön bedeutend. Da zeitgleich zu unserem Stadtrundgang auch der CSD stattfindet (sogar die Busse fahren mit kleinen Regenbogen-Flaggen auf ihren Dächern!) ist die Innenstadt drängend voll. Wir verschaffen uns einen Überblick vom Hafen und den berühmten bunten Bryggen-Häusern. Dann kaufen wir ein One-Way-Ticket für die Standseilbahn, die auf den Fløyberg hinaufführt – einen der sieben Bergener Berge, die die Stadt umgeben. Hier oben haben wir nicht nur eine wunderbare Aussicht auf das komplette Stadtpanorama, sondern nutzen auch ein paar der kleinen Wanderrouten, die auf dem Berg verlaufen. Anschließend wandern wir bergab, immer mit Blick auf die Stadt, die uns langsam näherkommt.
Wieder bei uns in Norheimsund entdecke ich an der Hauptstraße, die vor unserem Wasserfall verläuft, eine alte, hübsch hergerichtete Telefonzelle. Außen erklärt ein Plakat: Ta en bok, gi en bok – Nimm ein Buch, gib ein Buch. Ich trete ein. Das alte Telefon ist noch immer erhalten und museumswert gepflegt. Daneben erstreckt sich von oben nach unten ein Regal mit mehreren Bücher-Reihen. Alle auf Norwegisch. Ich nehme eines der Bücher in die Hand, den Drageløperen von Khaled Hosseini.
Ich blättere einmal kurz durch und diese Sprache, die dem Deutschen so seltsam ähnlich und doch so fremd ist, springt mir entgegen. All diese Wörter mit ihren eigensinnigen nordischen å, ø und æ üben eine ungeahnte Anziehungskraft aus. Darf ich dieses Buch mitnehmen? Ich habe keins zum Tauschen dabei und obwohl ich meistens nicht abergläubisch bin, wage ich es nicht es mitzunehmen, ohne dafür ein anderes in die Lücke zu stellen, die es hinterlassen würde.
Wie es am Ende so vieler Urlaube der Fall ist, haben wir von Norwegen einen Eindruck bekommen, der Lust auf mehr macht. Für mich war es das perfekte Ziel für die erste Auslandsreise nach langer Zeit. Norwegen ist ein Land, in das es sich lohnt, immer wieder zurückzukehren – ein Fleck Erde, an dem alle weltlichen Normen und Alltagssorgen verblassen, weil die Natur so schön ist, dass ich wünschte, sie immer um mich zu haben, um mehr bei mir zu sein.
Du kan reise så langt du vil,
Du kannst reisen so weit du willst,
du kan velge en egen vei
du kannst einen eigenen Weg wählen
gjennom skog, over hav og fjell.
durch Wälder, über Meere und Berge.Når verden er for stor
Stjernestøv [Aurora]
Wenn die Welt zu groß ist
og stien er alt for bratt
und der Pfad viel zu steil,
kan du vende blikket mot Nord.
kannst du den Blick gen Norden richten.