Wir leben in einer Welt, in der es machbarer scheint, fremde Planeten zu besiedeln, anstatt den Klimawandel abzuwenden. Zukunftsdystopien haben längst gewonnen und Utopien sind nur noch was für Realitätsverweiger*innen. Wer fühlt sie nicht? Die Ohnmacht im Angesicht der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und die Unbedeutung des eigenen Lebens, obwohl wir doch so vernetzt sind wie nie zuvor. Du bist nur ein kleiner Mensch. Was kannst du schon bewirken?
Mehr als du denkst. Denn Geschichte wird von Menschen geschrieben und es sind die Geschichten von Einzelpersonen, die das große Ganze formen. Wenn Lebensgeschichten eine Stimme hätten, dann würden einige von ihnen besonders laut schreien. Es sind keine blinden Wutschreie, sondern Schreie der Empörung, die für das Leben einstehen, es verteidigen, es feiern. Schreie des Widerstandes gegen schreiende Ungerechtigkeiten, ein Aufruf zur Menschlichkeit, jener Menschlichkeit, deren Würde mehr wiegt als die Macht jeglicher politischen und wirtschaftlichen Systeme, mehr als die Willkür derer, die das Leben verachten.
Im Oktober letzten Jahres erschien Roberto Savianos neues Buch „Gridalo“ – zu deutsch etwa: „Schrei es hinaus!“ Darin treffen wir auf Menschen, die für ihre Ideen und Überzeugungen eingestanden, sie mit jeder Faser ihres Seins verteidigt haben – und dafür einen hohen Preis zahlen mussten, oft keinen geringeren als ihr Leben. Saviano versammelt in seinem neuen Buch zahlreiche Persönlichkeiten, manche bekannt, manche unbekannt; Menschen, die Bewundernswertes geleistet, sich für Freiheit und Menschenrechte stark gemacht haben und trotzdem keine Heiligen waren, sondern Personen mitten aus dem Leben; Menschen, die scheinbar zur falschen Zeit am falschen Ort waren; aber auch Menschen, deren hasserfüllte Weltbilder wir zuerst demaskieren müssen, um ihnen dann entschieden entgegentreten zu können. Saviano möchte den Blick seiner Leser*innen schärfen und setzt viele Perspektiven zu einem Mosaik zusammen.
Auf dem Buchrücken heißt es: “Schrei hinaus, dass alles sich ändern kann. Schrei es laut. Ich möchte dich an einen Punkt mitnehmen, an dem du dich verlieren wirst. An den Punkt, an dem ich angekommen bin, damit du von dort aus aufbrechen kannst, wo ich nicht weitergekommen bin. Ich möchte nicht, dass du Wege zurücklegst, die schon festgetreten sind und die dich auf einem vorgezeichneten Pfad festhalten. Ich möchte dir keine Vorsicht lehren, im Gegenteil: Ich möchte dich an den Punkt führen, an dem Vorsicht zum Wagnis werden muss, und Weisheit zu Wagemut, denn vielleicht schafft man es nur so, einen neuen Weg zu zeichnen.”
Bevor wir uns auf den Weg machen, gibt Saviano den Leser*innen eine Karte in die Hand. Es ist keine gewöhnliche Karte, die zur besseren Orientierung dient, sondern eine Art moralischer Kompass, der ins Dickicht der entscheidenden Lebensfragen führt:
Mit dieser Landkarte unbequemer Fragen im Gepäck treffen wir auf Menschen, deren Geschichten eine Antwort sein können, Geschichten anhand derer Saviano Position bezieht und die einen oft sprachlos zurücklassen. Wir treffen beispielsweise Ipazia, Giordano Bruno, Anna Achmatowa, Robert Capa, Jean Seberg, Martin Luther King, Francesca Cabrini, Anna Politkowskaja, Jamal Khashoggi, Edward Snowden, Daphne Caruana Galizia und sogar George Floyd. Auch vor den Geschichten unerwarteter Personen schreckt Saviano nicht zurück, im Gegenteil. So wird zum Beispiel Joseph Goebbels‘ Psyche zum Lehrstück darüber, wie Propaganda funktioniert und wie wir sie entlarven können, um ihr nicht zum Opfer zu fallen. Emotional am stärksten hat mich allerdings die Geschichte eines jungen italienischen Architekten-Paares getroffen, die nach London ausgewandert sind, um ihr Glück fernab ihrer krisengebeutelten Heimat zu finden – doch dann kam auf tragische Weise alles ganz anders.
Die Auswahl der Geschichten wurde sorgsam getroffen und basiert offensichtlich auf den Einflüssen, die bestimmte Personen auf Saviano hatten. Damit ist es sein bisher persönlichstes Buch. Mitunter schreibt er in der Du-Form, wendet sich damit mal an die Leserschaft, mal an sein jüngeres Ich. Zwischen all diesen eindrücklichen Geschichten, die gleichzeitig ins Mark treffen und unheimlich lehrreich sind, fehlt allerdings eine, vielleicht die wichtigste. Die von Roberto Saviano selbst. Seine eigene findet sich in Spuren überall im Buch, denn sie ist eingewebt in die Erzählungen, die er ausgewählt hat. Ich möchte einen Versuch unternehmen, Savianos Geschichte zu ergänzen, wenn auch nur in einer Kurzform, die ihm nicht gänzlich gerecht wird.
Roberto hat sich in seinem eigenen Leben früh entschieden, wofür er einsteht. Mit gerade einmal 26 Jahren veröffentliche er sein Erstlingswerk „Gomorrha“, in der er detailliert die Machenschaften der Camorra, der neapolitanischen Variante der Mafia, beschreibt und anprangert. Diese mit Fakten aufgeladene Nonfiction-Novel ist stets weit mehr gewesen als ein Tatsachenbericht, sondern bezieht eindeutig Position: Die Camorra und das organisierte Verbrechen zerstören seine Heimatstadt Neapel, unterwandern die italienische Politik, sind gefährlich erfolgreiche Player auf der Bühne der internationalen Wirtschaft. Ihre Macht gründet sich auf Einschüchterung und Mord, umgeben aus Mauern des Schweigens in einem Klima der Angst. Seit eh und je wird Roberto vorgeworfen, er habe in seinem Erstlingswerk nichts Neues erzählt. Na und?
Roberto hat es geschafft, die Camorra auf eine Weise zu erzählen, die tausenden Menschen die Augen geöffnet und das Thema in die internationale Öffentlichkeit katapultiert hat. Es gibt eine Zeit vor „Gomorrha“ und eine danach, ein Erdstoß, der seinesgleichen sucht. Seither wird Roberto beschuldigt, er sei darauf aus, sich auf Kosten des guten Rufes Neapels und Italiens zu bereichern. Der Überbringer der schlechten Nachrichten wird zur größeren Zielscheibe als die eigentlichen Urheber des Übels. Es ist eine Parabel, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder funktioniert hat und die auch in „Gridalo“ ein Hauptthema ist. Und dabei hat ein junger Mann für sein Buch lediglich den richtigen Ton gefunden, der die Leserschaft italien-, europa- und weltweit so getroffen hat, dass diese Geschichten auch die unseren geworden sind.
„Gomorrha“ (auf Deutsch mit h) verkaufte sich so gut, dass die Protagonisten – die kriminellen Clans der Camorra und ihre Ableger – das Buch nicht mehr ignorieren konnten. So viel Aufmerksamkeit schadet dem organisierten Verbrechen, das am besten in völliger Dunkelheit fernab des öffentlichen Schlaglichtes operiert und floriert. Je mehr Menschen Roberto zuhörten, desto mehr Morddrohungen erreichten ihn. Schon bald bekam er die Gewalt der Macht, mit der er sich angelegt hatte, zu spüren, als sein Buch sich nach der Erscheinung immer rasender verkaufte – bis heute weit über 2 Millionen allein in Italien und 10 Millionen weltweit, übersetzt in 52 Sprachen. Nach wiederholten Morddrohungen vonseiten der Clans, die in seinem Buch im Zentrum stehen, griff der italienische Staat ein und stellte Roberto unter Polizeischutz. Seither lebt er unter strengen Sicherheitsvorkehrungen an wechselnden Orten, teilweise im Ausland, stets mit einem mehrköpfigen Personenschutz an seiner Seite.
In Italien gibt es wahrscheinlich kaum eine Person, die keine Meinung über Roberto Saviano hat, natürlich unabhängig davon, ob seine Bücher gelesen wurden oder nicht. Er ist Nestbeschmutzer, Sündenbock, Hassfigur auf der einen und Antimafiaheld, Vorbild, Gewissen der Nation auf der anderen Seite. Roberto hat sich seit jenem verhängnisvollen Jahr 2006 nicht unterkriegen lassen und kämpft. Jeden Tag. Er ist präsent mit seinen Artikeln in großen Tageszeitungen, mit kritischen TV-Beiträgen, auf Social Media, längst nicht mehr nur zu Themen des organisierten Verbrechens, sondern als Multiplikator der Anliegen vieler Aktivist*innen und als Erklärer unzähliger politischer Zusammenhänge. Dank der großen öffentlichen Aufmerksamkeit ist er weiterhin Zielschiebe täglicher Schmähkommentare und Verleumdungen, aber gleichzeitig vor dem langen Arm seiner Widersacher geschützt.
Manchmal, in stillen Momenten, vielleicht darf Roberto dann auch kurz das sein, was wir alle sind: ein Mensch, kein Symbol. Einer, der unumstößlich an die Kraft des Wortes glaubt und davon überzeugt ist, dass sie den Lauf der Welt verändern kann. Stell dir vor, kein Mensch hätte sich für „Gomorrha“ interessiert und es wäre in den Bücherläden verstaubt… Deswegen wird Roberto nie müde zu sagen, dass es nicht Bücher sind, die den Mächtigen Angst einjagen, nein, es sind die Leser*innen, die vielen, vielen Augen, die diese Geschichten aufsaugen und zu ihren eigenen erklären. Erst dann bekommen Worte ein Gewicht, das die Mächtigen in Bedrängnis bringt. Lesen ist deshalb kein passiver Zeitvertreib, sondern eine aktive Schulung des Geistes, die Veränderung anstoßen kann.
„Gridalo“ erscheint 14 Jahre nach “Gomorrha” und präsentiert sich als Quintessenz all jener Persönlichkeiten und Geschehnisse, die Robertos Denken in seinem Leben unter Polizeischutz bisher geprägt haben. Es ist für mich mehr als ein Buch, das ich ins Regal stelle, sobald es ausgelesen ist; es ist eines der seltenen Bücher, die mit der Stimme eines Freundes sprechen, der dich bestärkt, dich auffängt, dich lehrt, dich aufwühlt, dich auffordert dort hinzuschauen, wo es am unangenehmsten ist – weil er dein Bestes will, nicht möchte, dass du die gleichen Fehler machst wie er, sondern deine eigenen begehst. Und dir die Welt mit seinem Blick zeigt, der dir so vertraut und trotzdem immer wieder neu ist. Um es mit den Worten J. D. Salingers zu sagen: „Was mich richtig umhaut, sind Bücher, bei denen man sich wünscht, wenn man es ganz ausgelesen hat, der Autor, der es geschrieben hat, wäre irrsinnig mit einem befreundet und man könnte ihn jederzeit, wenn man Lust hat, anrufen.“
Ich bin nur ein Mensch, einer wie alle anderen, die wir uns gleichen und doch so unterschiedlich sind; mit all unseren Geschichten schreiben wir gemeinsam Geschichte. Du kannst einen Unterschied machen, weil genau du in der Welt bist. Beim Lesen von „Gridalo“ habe ich durchweg ein Gefühl tiefer Dankbarkeit darüber verspürt, dass ich Italienisch als meine zweite Fremdsprache erwählt habe – meine über alles geliebte Adoptivsprache, die mich fast jeden Tag bereichert. Trotzdem bin ich schon sehr gespannt auf die deutsche Übersetzung und kann es kaum abwarten, sie zahlreich zu verleihen und zu verschenken.
Schrei, dass alles sich ändern kann.
R. S.
Schrei, wenn auch in dir die Gewissheit zu siegen droht, dass sich niemals etwas ändern wird.
Gridalo che tutto può cambiare. Gridalo forte.