Kennst du das? Dein Musikgeschmack ist so besonders und herausragend, dass du weit und breit die einzige Person bist, die ihn abfeiert. Na gut, passiert nicht jedem, aber mir oft. Kürzlich bin ich also allein zum Konzert von Liberato nach Berlin gereist. Ich war zwar schon früher allein auf Konzerten, aber lockdownbedingt war das gefühlt ein halbes Leben her. Zum Glück stellte sich meine super dramatische Aufregung, die ich im Gepäck hatte, ganz schnell als unbegründet heraus, als ich wahrscheinlich als einziger deutscher Fan vor der Bühne zwischen einer Menge zugereister und nach Berlin ausgewanderter Italiener*innen auf den Musik-Act wartete, der wohl als einer der mysteriösesten in ganz Europa bezeichnet werden kann — und als einer der spannendsten in der italienischen Musikszene sowieso. In der ist Liberato das, was Elena Ferrante für die italienische Literatur ist: ein Phantom, das die neapolitanische Kulturlandschaft weit über ihre Lokalgrenzen hinaus bereichert.
Liberatos Liedtexte sind größtenteils auf Neapolitanisch, der Sprache in und um Neapel. Er greift die Tradition der neapolitanischen Lieder aus dem 20. Jahrhundert auf, kleidet sie in neue, moderne Melodien, huldigt der Stadt am Vesuv, ihrem Fußballclub, ihren Vierteln und Plätzen, der Liebe. Liberato schafft es, klanglich und ästhetisch ein Neapel zu inszenieren, das sein negatives Image hinter sich lässt und im 21. Jahrhundert wieder das Zeug zum Sehnsuchtsort Nummer 1 hat. Das erste Lied Nove Maggio erschien 2017 auf Youtube, wie aus dem Nichts tauchte der Sänger ohne Gesicht in den Sozialen Medien auf. Seitdem ist der 9. Mai für Liberato-Fans das, was für Verliebte der 14. Februar ist: Der Tag, an dem man von seinem Liebsten Zuwendung erwartet — in diesem Fall in Form neuer Musik, versteht sich.
Um Liberatos Identität, die auf der Bühne akribisch maskiert wird, ranken sich so viele Mythen wie es in Neapel Legenden gibt und sie tragen entscheidend zum Charme des Projektes bei. Im italienischen Web kursieren allerlei Namen und bekannte Künstler, die hinter Liberato vermutet werden, immer wieder wird investigativjournalistisch versucht, das Gesicht hinter der Maske zu entlarven. Keine ist wahrscheinlich so romantisch und außergewöhnlich wie jene, dass es sich um einen jungen Mann handeln könnte, der im Jugendgefängnis auf der winzigen Insel Nisida im Golf von Neapel einsitzt und sich durch seine Musik rehabilitiert. Eingefleischte Fans verteidigen natürlich Liberatos Anonymität, denn sonst wäre die Magie dahin. In jedem Fall haben die Personen, die das Projekt erschaffen haben, sehr gut verstanden, dass Anonymität ein zauberhaftes Marketing-Instrument sein kann, vor allem auch ein praktisches, wenn dahinter Personen stecken, die die Musik für sich sprechen lassen und den Personenkult, der in Musik-Fan-Kreisen gang und gäbe ist, ein Schnippchen schlagen möchten.
Dass es jemals eine Tour geben könnte, die Berlin, Paris und London umspannt, war Anfang des Jahres eine Überraschung, die meine Vermutung bestärkt hat: Hier geht es nicht nur um rein neapolitanische Lokal-Folklore, sondern um ein pan-europäisches Statement, das verschiedene Genres, Epochen, Ästhetiken und Sprachen zusammenbringt, ohne seinen Fokus zu verlieren. Nicht umsonst sind die Lieder mit englischen, spanischen, französischen Phrasen gespickt. Trotzdem: Neapel liebt Liberato, so sehr, dass vielen Fans der Weg von 1700 km gen Norden nach Berlin nicht zu weit war.
Zum Glück gibt es keine Vorband und mit reichlich einer halben Stunde Verspätung tritt Liberato mitsamt seiner zwei musikalischen Supporter auf die Bühne, alle wie gewohnt in schwarzem Look und komplett vermummt. Die Luft ist stickig heiß, der Bass wummert, die Lichtshow reißt alle mit. Ich singe in meinem Anfänger-Neapolitanisch, das akustisch unter dem Gesang der echten Neapolitaner*innen glücklicherweise untergeht. Auch wenn ich (noch) nicht jedes einzelne Wort verstehe, fühle ich es zu 100%: ‘Nnammurato for the first time, na, na, na, na… Dass ich alleine da bin, ist völlig uninteressant, im Gegenteil, ich genieße die Unabhängigkeit, mich frei bewegen zu können und so zu tanzen, wie ich es nur tue, wenn ich wirklich niemanden kenne. Ohnehin fühle ich mich in meinem Liberato-Shirt perfekt „getarnt“. Unter Menschen zu sein, die die gleiche Musik lieben, ist ein unvergleichliches Gefühl. Während jedoch viele damit berschäftigt sind, die halbe Show auf ein paar Pixel ihres Smartphones zu bannen, bewundere ich Liberatos Dance Moves, lausche seinem Gesang, der live nicht mit Autotune verfremdet ist, sondern ganz echt klingt und werde mir bewusst, dass ich das alles gerade wirklich erlebe. Bekannte Songs werden in Remixen gespielt, die ich vorher noch nicht kannte und die die Fans zum Ausrasten bringen. Wie immer, wenn man ein Flow-Erlebnis hat, ist alles ganz schnell nach nur knapp 90 Minuten vorbei-bye-bye. Die Menge singt, um Liberato auf die Bühne zurückzuholen, aber niente, ein sang- und klangloser Abgang ohne Überraschungen, die Lichter gehen an und dann ist klar: è tutto finito.
Vielleicht hätte eine Überraschung drin sein können, irgendeine Hommage an den SCC Neapel, der vor kurzem nach 33 Jahren zum ersten Mal die italienische Meisterschaft gewonnen hat oder irgendein neues Lied, schließlich liegt das Erscheinen des letzten Album eine Weile zurück. Aber es ist auch nicht verwunderlich, dass Liberato mal wieder mit den Erwartungen seines Publikums spielt. Vielleicht plant er die nächste Überraschung für genau den Moment, wenn die Aufmerksamkeit am geringsten ist, z. B. nach der Tour — oder gar nicht, denn unsere Lieblingskünstler*innen schulden uns nichts. Ich übe mich in Dankbarkeit für die Musik, die wie ein Geschenk veröffentlicht wurde, und die ich überraschenderweise nicht weit von meinem Wohnort entfernt live erleben durfte. Auf jeden Fall haben die drei Liberato-Vertreter auf der Bühne am meisten von allen geschwitzt, vielleicht zu sehr, um sich für eine Zugabe zu erbarmen.
Draußen bahne ich mir meinen Weg durch Menschenansammlungen, die weiterfeiern, ein paar Jungs, die singen: Siamo i campioni d‘Italia und fortsetzen, was Liberato nicht beendet hat. Und weil ich es für sehr unwahrscheinlich halte, dass Liberato ständig nach Berlin kommen wird, entscheide ich mich spotan dafür, am nächsten Abend zum zweiten Konzert zu gehen. Ich bin viel entspannter und erlebe die Show viel näher an der Bühne. Die gleiche Setlist noch einmal zu hören, ist dadurch ein anderes Erlebnis. Nach doppelter Aufwärmübung kann ich bis zum nächsten Konzert in Neapel vielleicht sogar lückenlos mitsingen. Non ti scordar di me, ce verimm‘ a Napule.